Englands Team der Stunde – West Bromwich Albion

Wer sich derzeit mit der Tabelle der englischen Premier League auseinandersetzt, wird schon bei Platz 3 stutzig. Dort rangiert nach einem Drittel der Saison völlig überraschend West Bromwich Albion. Das Team war zuletzt bestenfalls als Fahrstuhlmannschaft in Erscheinung getreten, schickt sich aber in dieser Spielzeit an, Platz 10 der vergangenen Saison zu toppen und damit einen persönlichen Bestwert in der Premier League einzufahren. Wie kommt’s?

Auch britische Online-Medien beschäftigen sich aktuell mit dem Phänomen West Brom. Erst recht, seit das Team der Stunde vor einer Woche Chelsea mit 2:1 besiegte und damit maßgeblich zur Demission von Chelsea-Coach Roberto di Matteo beitrug. Der auch Baggies oder Throstles (Drosseln) genannte Überraschungsklub ging in 13. Spieltagen erst dreimal als Verlierer vom Platz. Neben einem deutlichen 0:3 beim Fulham FC erlitt West Brom lediglich zwei unglückliche 1:2-Niederlagen gegen Newcastle United und Manchester City, die beide erst durch Gegentreffer in der Nachspielzeit zustande kamen. Ansonsten fällt auf, dass West Brom sehr heimstark ist (18 von 21 möglichen Punkten), über eine ordentliche Defensive (15 Gegentore in 13 Spielen) verfügt und eine variable Offensive (8 Torschützen erzielten 23 Tore) besitzt. Vier Dreier in den letzten vier Partien machen sie zudem zum Team mit dem besten Lauf in der Premier League. Als Gründe für all dies machen britische Medien vor allem drei Punkte aus:

Der Chairman
Mit Jeremy Peace (56) führt den Klub seit 2002 ein Einheimischer, der über reichlich Erfahrung in der Finanzindustrie verfügt. Seit seinem Amtsantritt stieg der Klub dreimal aus der Premier League ab und dreimal wieder auf, zuletzt 2010. Dieses stete Auf und Ab verlieh dem Klub den Spitznamen „Boing Boing Baggies„. Dennoch ließ sich Peace nicht dazu hinreißen finanziell alles auf eine Karte zu setzen. Eher untypisch für viele englische Klubs legt er ein starkes Augenmerk auf eine solide Finanzpolitik und scheut übergroßes Risiko. In den vergangenen vier Jahren lag das Transferdefizit jeweils unter 6 Millionen Euro. Damit gehören sie zu den eher mit Augenmaß wirtschaftenden Klubs auf der Insel. Diese Politik machte sie zwar zunächst zum Jo-Jo-Klub, doch seit 2010 scheint sich die beharrliche Politik auszuzahlen. Platz 11 und Platz 10 bedeuteten für den einmaligen englischen Meister (1920) zuletzt Bestmarken in der Premier League.

Der Sportdirektor
Ebenfalls untypisch für englische Verhältnisse ist die Installation eines Sportdirektors. Dan Ashworth füllt diesen Posten seit 2007 aus und macht dies derart erfolgreich, dass er im Sommer 2013 als „Director of Elite Development“ zum englischen Verband wechselt. Zuvor soll er jedoch helfen, seinen Nachfolger ausfindig zu machen. Ashworth steht für eine umsichtige und preiswerte Transferpolitik. Mit vergleichsweise schlanken 5,1 Millionen Euro zählt der 2011 erworbene Stürmer Shane Long zum Königstransfer seiner Amtszeit. Mit dem ehemaligen englischen Nationalkeeper Ben Foster, dem nigerianischen WM-Stürmer Peter Odemwingie und dem Ungarn Zoltan Gera (Fulham FC) lotste er 2010 und 2011 weitere Leistungsträger für zusammen acht Millionen Euro in die Midlands. Für den belgischen Jungstar Romelu Lukaku (ausgeliehen vom Chelsea FC) und den Argentinier Claudio Yacob (Racing Club de Avellaneda) musste er in diesem Sommer überhaupt kein Geld in die Hand nehmen und dennoch schlugen beide voll ein. Für den Abräumer Yacob sei er in Argentinien angeblich sogar auf einen Zaun geklettert, um ihn beim Training zu beobachten. Fast zu schön um wahr zu sein.
Auch bei den Trainern bewies Ashworth bislang ein gutes Händchen. 2009 gab er dem damals noch unerfahrenen Roberto di Mateo die Chance erstmals einen höherklassigen Verein zu coachen. Der Italiener führte West Brom prompt zurück in die Premier League. Als hier im Verlauf der Rückrunde das Pendel Richtung Abstieg auszuschlagen drohte, lotste Ashworth Trainer-Oldie Roy Hodgson zum Fahrstuhlklub. Hodgson verhalf den Baggies zweimal zu 47 Punkten und platzierte sie damit im gesicherten Mittelfeld. Vor der EURO 2012 verlor West Brom Hodgson jedoch an die englische Nationalelf. Wer dachte, dass es ohne den erfolgreichen Trainer bergab gehen würde, der sieht sich vorerst getäuscht. Denn es kam Steve Clarke.

Der Coach
Steve wer, ist man nun geneigt zu fragen. Und selbst einigen englischen Fußballfans wird der Name nichts gesagt haben, denn West Brom ist der erste Cheftrainerposten des 49-jährigen Schotten. Doch wer auf dessen Vita blickt, den wundert sein derzeitiger Erfolg nicht allzu sehr. Nach einer langjährigen Spielerkarriere bei Chelsea startete er eine 14-Jahre währende Co-Trainerkarriere bei Chelsea, West Ham und Liverpool. Er arbeitete dabei unter solch renommierten Trainern wie Rafael Benitez, Roy Hodgson, Kenny Dalglish, Claudio Ranieri und allen voran José Mourinho. Der ebenso exzentrische wie erfolgreiche Portugiese zeigte sich zuletzt wenig überrascht über Clarkes tollen Einstand: „I’m the last to be surprised because I felt he was ready for that a long time ago. He’s an incredible coach.”
Und Clarke hat der Mannschaft schon seine Handschrift verpasst. Hatte Hodgson noch darauf geachtet, dass die Spieler körperlich fit und spielerisch äußerst diszipliniert auftreten, so verlieh ihnen ihr neuer Coach eine gewisse spielerische Leichtigkeit. West Brom übt heute mehr Druck auf den Gegner aus und agiert in Ballbesitz schnell, was in einem überfallartigen Umschaltspiel mündet. Die Kicker agieren zudem deutlich kreativer als noch im letzten Jahr, woran freilich auch die Neuzugänge mitwirken. Am Ende stehen zählbare Resultate, obwohl West Brom regelmäßig weniger Ballbesitz hat als der Gegner. Das Team ist auch sehr flexibel und nicht so leicht auszurechnen. Clarke lässt gerne rotieren und verfügt über eine äußerst treffsichere Offensivabteilung. Mit Long, Lukaku, Odemwingie, Gera sowie James Morrison erzielten fünf seiner Offensivspieler jeweils zwischen drei und fünf Toren.


Erfolgsgarant Steve Clarke in der Pressekonferenz nach dem Sieg gegen Chelsea über den Realitätssinn bei West Brom, sein offensiv ausgerichtetes Team und die Notwendigkeit zu rotieren

Nummer 1 in den Midlands
Mit ihrem jüngsten Höhenflug bestätigen die Baggies ihren erst in der letzten Saison erworbenen „Titel“ als bestes Team der Midlands. In der traditionsreichen Fußballregion in und um Birmingham war lange Zeit Aston Villa der Platzhirsch. Den zur Zeit auf Platz 18 stehenden Traditionsverein – dessen Stadion nur sechs Kilometer von der Heimstätte der Baggies entfernt liegt – hat seit dem Rücktritt von Trainer Martin O’Neill das Glück verlassen. Der Nordire hatte aus dem Klub über Jahre hinweg stets das Optimum herausgeholt. Im Spätsommer 2010 verließ er dann jedoch entnervt den Klub, als die besten Spieler verkauft wurden, ohne sie adäquat zu ersetzen.

Glückssträhne oder nachhaltiger Höhenflug?
Ein Schicksal, das West Brom derzeit wenig kümmern dürfte. Dennoch bleibt trotz aller Glückseligkeit abzuwarten, wie lange der Lauf der Baggies anhält. Sie scheinen immerhin einen ausgeprägten Sinn für die Realität zu besitzen. Coach Clarke verweist auf das Beispiel Hull City. Der Klub war im Herbst vor vier Jahren in die Premier League gestürmt als gäbe es kein Morgen mehr, nur um Schritt für Schritt nach hinten durchgereicht zu werden. Zwar konnte der Abstieg am letzten Spieltag abgewendet werden, doch in der zweiten Premier-League-Saison war dann Schluss mit lustig. Mit nur sechs Siegen in 38 Spielen qualifizierten sie sich „mühelos“ für die zweite Liga. Ein Schicksal, das auch West Brom ereilen könnte. Erfolge wecken bekanntlich Begehrlichkeiten: Der Sportdirektor ist nächsten Sommer schon weg. Wenn sie weiter oben dran bleiben, werden bald auch Trainer und Leistungsträger so manch lukratives Angebot erhalten. Nach allem was zu lesen ist, würde einer dann vermutlich genauso nüchtern weitermachen wie bisher: Chairman Jeremy Peace.