Einwurf: Bedingt schlagkräftig

Die deutsche Fußballnationalmannschaft darf sich vor dem abschließenden Testspiel gegen Spanien seit 128 Tagen Weltmeister nennen. Das DFB-Team hat die Rolle als weltbestes Team aber noch nicht so recht angenommen. Sämtliche Länderspiele verliefen seither mehr oder minder unbefriedigend. Da machte der 4:0-Sieg gegen Gibraltars Noname-Kicker keine Ausnahme. Was muss sich das deutsche Team ankreiden lassen und was darf als Entschuldigung gelten?

Vier Pflichtspiele absolvierte die Nationalmannschaft seit der Weltmeisterschaft. Zwei Siegen gegen Schottland und Gibraltar stehen ein Remis gegen Irland und eine Niederlage gegen Polen gegenüber. Die Torbilanz steht bei 7:4. In der Qualifikationsgruppe liegt das deutsche Team punktgleich mit Schottland und Irland hinter Polen auf Position 2. Gemessen am WM-Titel und den normalerweise mühelosen Qualifikationen für eine WM- oder EM-Endrunde ein überaus durchwachsener Start. Das Team präsentiert sich momentan als nur bedingt schlagkräftig, wenn es darum geht, sich als Titelkandidat für die Endrunde in Position zu bringen.

Die Schwachpunkte:
  1. Torabschlüsse:
    In erster Linie fällt die Abschlussschwäche des deutschen Teams auf. In den vier Qualifikationsspielen nahm die DFB-Elf laut der UEFA-Homepage genau 101-mal das gegnerische Tor ins Visier. Die Chancenverwertung liegt also gerade einmal bei 6,9 Prozent. Eine vernichtende Bilanz. In der aktuellen Bundesligastatistik sind lediglich Hamburg und Dortmund schlechter. Beide sind entsprechend schlecht platziert. Besonders eklatant ist, dass laut UEFA-Homepage nicht einmal jeder dritte Schuss der deutschen Nationalmannschaft aufs Tor kommt und davon wiederum nur jeder fünfte ins Tor geht. Die Bilanz legt eine mangelnde Ruhe und Konzentration im Torabschluss nahe.
  2. Standards:
    Hand in Hand mit der mangelnden Chancenverwertung gehen die harmlosen Standards einher. In Brasilien war es just diese Waffe, die das DFB-Team ins Spiel brachte. Sei es in den Gruppenspielen gegen Portugal und Ghana oder in der K.o.-Runde gegen Frankreich beziehungsweise Brasilien. In der EM-Qualifikation traten Toni Kroos & Co. bislang 47 Eckstöße aus denen lediglich der 2:1-Siegtreffer gegen Schottland resultierte, als Thomas Müller ein Gestochere im Anschluss an eine solche Standardsituation verwertete.
  3. Tempo und Kreativität:
    Deutschland traf bislang zumeist auf massive Deckungsverbünde. Die Kontrahenten selbst suchten ihr Heil in schnellen Gegenattacken. Schottland nutzte dies zum Ausgleichstreffer und auch Polens erstes Tor kam auf diese Weise zustande. Das DFB-Team selbst versäumte es bisher viel zu oft, durch schnelle Ballzirkulationen oder in die Schnittstellen gespielte Bälle, beim Gegner Verwirrung zu stiften. Selbst schnelle Gegenzüge verpuffen oft genug, ehe der gegnerische Strafraum erreicht ist, wie zuletzt am Freitag gegen Gibraltar. Das kreative Element bleibt regelmäßig auf der Strecke. Stattdessen sucht das DFB-Team mit zunehmender Spieldauer sein Heil in Distanzschüssen. Zu erleben gegen Irland und Gibraltar
  4. Flügelspiel:
    Ein engmaschiger Defensivverbund ist selten durch die Mitte zu knacken. Deshalb liegt es auf der Hand über außen zu kommen und von dort in den Rücken zu flanken oder in den Strafraum einzudringen. In dieser Hinsicht spielen die Außenverteidiger eine wichtige Rolle, indem sie den eigenen Außenspieler hinterlaufen oder aber diesen in Szene setzen. Die unerfahrenen Außenverteidiger haben dies allerdings bislang nicht überzeugend verstanden. So bleiben wichtige Akzente im Offensivspiel aus. Wie es klappen kann, zeigten Sebastian Rudy und Shkodran Mustafi bei ihren Vorlagen zum jeweiligen 1:0 gegen Schottland und Gibraltar.
  5. Mitläufer:
    Gegen Gibraltar legte Lukas Podolski zwar zwei Tore auf, dennoch spielte der dienstälteste Nationalspieler nicht wie ein Leistungsträger. Max Kruse wusste über 90 Minuten ebensowenig zu überzeugen. Auch ein Julian Draxler konnte sein Potenzial in zwei Nach-WM-Einsätzen nicht gewinnbringend auf den Rasen bringen. Sie stehen nach der WM exemplarisch für eine Reihe von Spielern, die sich eigentlich in Position bringen müssten, um nachhaltig in den Kader zu drängen. Sobald sich ihnen die Chance bietet, wirken sie hingegen gehemmt und helfen dem Team nicht weiter.

 

Erklärungsversuche:
  1. Neu formiertes Team wider Willen:
    Bei der WM zählten 14 Spieler zum Stammpersonal. Von ihnen haben Philipp Lahm, Miroslav Klose und Per Mertesacker ihren Rücktritt erklärt. Bastian Schweinsteiger und Mesut Özil haben aufgrund von Verletzungen seither nicht in der Nationalelf gespielt, Benedikt Höwedes und Sami Khedira standen nur je einmal auf dem Platz, Mats Hummels und André Schürrle zweimal. Lediglich Manuel Neuer, Toni Kroos, Thomas Müller, Mario Götze und Jérôme Boateng standen in allen vier Spielen zur Verfügung. Das heißt, nur vier WM-Feldspieler bildeten zuletzt das Korsett, um das herum neue und immer wieder wechselnde Spieler gruppiert wurden. Das ist, wie sich zeigt, zu viel des Guten. Umso mehr, wenn auch noch ein verhinderter Weltmeister wie Marco Reus ausfällt. So fehlen Automatismen, die in den vergleichsweise kurzen Vorbereitungsphasen nicht verinnerlicht werden können.
  2. Fehlende Erfahrung:
    Mit Lahm, Mertesacker und Klose verließen Spieler die Nationalelf, die zusammen über die Erfahrung von 350 Länderspielen verfügten. Dieses Defizit können die Durms, Mustafis, Kramers, Rüdigers, Ginters und Kruses nicht von heute auf morgen wett machen. Einen Philipp Lahm, der wie selbstverständlich fast immer die richtigen Entscheidungen traf, wird es in Deutschland so schnell nicht mehr geben. Und die Medien tun den jungen Kronprinzen keinen Gefallen, sie beständig am Bayern-Kapitän zu messen. Die jungen Spieler benötigen Zeit und Vertrauen, um ihren Platz zu finden und dem Spiel ihren Stempel aufzudrücken. Das mag eine schmerzhafte Erkenntnis sein, sie kommt aber nicht wirklich überraschend. Zumindest muss man den aufgebotenen Spielern zugutehalten, dass sie als Team in allen Partien das Spielgeschehen dominierten. Sie nahmen das Heft des Handelns in die Hand, wenngleich oftmals ohne die zwingende Durchschlagskraft nach vorne. Das im Grunde genommen überzeugende Spiel in Polen ist hier stellvertretend zu nennen.
  3. Noch auszubildende Hierarchie:
    Mit dem personellen Aderlass fehlen zugleich wichtige und jahrelange Wortführer. Mertesacker, Lahm und Klose gehörten seit langer Zeit zum Spielerrat der Nationalmannschaft. Jogi Löw fehlen somit vertraute Ansprechpartner, es muss sich erst eine neue Hierarchie im Team ausbilden. Hummels und Khedira, die wie Schweinsteiger dem neuen Mannschaftsrat angehören, fehlten seit der WM überwiegend verletzt. Neuer und Müller komplettieren den aktuellen Mannschaftsrat. Neuer steht im Tor und kann dort naturgemäß keinen Einfluss auf die Spielweise seines Teams nehmen, so dass lediglich Müller übrig bleibt, der vermehrt in vorderster Front anzutreffen ist.
  4. Abnutzungseffekt
    Die WM hat offenkundig allen Spielern enorm viel abverlangt. Exemplarisch zeigen dies der seither verletzte Schweinsteiger und der ebenfalls überwiegend angeschlagene Hummels. Soweit zu den körperlichen Auswirkungen. Doch auch der Kopf muss nach dem Triumph erst einmal bereit sein für eine Fokusierung auf neue Ziele. Die Nationalmannschaft hatte seit der EURO 2008 Titel wieder ernsthaft ins Visier nehmen können. Nach drei vergeblichen Anläufen war der Wille, es in Brasilien endlich zu schaffen riesig. Nach dem errungenen WM-Titel nun den Schalter wieder im normalen Quali-Spielbetrieb umzulegen, scheint offenkundig nicht jedem Leistungsträger leicht zu fallen. Zudem lässt die hohe Taktung der Spiele mit Ligabetrieb sowie nationalen und internationalen Pokalwettbewerben kaum Luft zu verschnaufen. Der späte Ausgleich gegen Irland, um den die DFB-Elf beinahe gebettelt hatte, ließ durchschimmern, dass die erfahrenen Spieler in der Phase des Spiels nicht mehr in der Lage waren, Ruhe zu bewahren, gegenzuhalten und die Richtung vorzugeben.