„Die WM war vier Wochen Ausnahmezustand“

Matthias Hangst (Quelle: www.matthiashangst.com)

Matthias Hangst (Quelle: http://www.matthiashangst.com)

Er hat das aktuelle Sportfoto des Jahres geschossen. Er hat im Sommer in Brasilien sein sechstes großes Fußballturnier fotografiert. Er ist einer von nur acht festangestellten deutschen Sportfotografen bei Getty Images. Sein Rekord liegt bei rund 150 abgelichteten Fußballspielen und 80.000 zurückgelegten Kilometern im Jahr. Der Karlsruher Matthias Hangst (36) hat viel zu erzählen.

Matthias, wie viel Prozent Deiner Tätigkeit entfallen auf die Fußballfotografie?
Matthias: So um die 80 Prozent sind es bestimmt.

Wie lautet Deine klassische Aufgabe bei einem Fußballspiel?
Matthias:
Da gibt es mehrere. Zum einen natürlich das Spiel als klassischer Sportfotograf zu dokumentieren. Dann Emotionen einzufangen: Jubel, Tore, Enttäuschungen. Bei einer Partie Spielszenen vor bestimmten Werbebanden zu fotografieren gehört ebenfalls dazu. Und manchmal geht es schlicht darum, meine eigene Bildsprache zur Geltung zu bringen.

Muss man eigentlich ein Fan sein, um Sportfotograf zu werden?
Matthias:
Ich bin kein Fußballfan, obwohl ich mittlerweile mehr Spiele gesehen haben dürfte, als so mancher Berater. Wer seinen Job richtig gut machen will, der darf bei der Arbeit kein Fan sein. Ein Sportfotograf sollte aber eine Grundbegeisterung für den sportlichen Wettkampf mitbringen. Es macht den Job zudem unglaublich viel leichter, wenn man selbst Sport auf einem gewissen Niveau betrieben hat. Ich bin früher bei Deutschen Jugendmeisterschaften im Mittelstreckenlauf angetreten und habe bis zur Oberliga Handball gespielt. Diese Erfahrung hilft mir beim Fotografieren.

Du fotografierst international. Gibt es Städte oder Länder, in denen Du gerne arbeitest?
Matthias:
Ich finde den englischen Fußball und englische Stadien attraktiv und begeisternd. Es gibt dort viele Vereine, die noch über einen Tick mehr Fußballkultur verfügen, als beispielsweise in Deutschland.

Wie meinst Du das?
Matthias:
Dort hängen Stadt und Region oft noch eng am Verein. Die Beziehung zueinander ist über Generationen hinweg gewachsen. Ich empfinde die Atmosphäre in England als intensiver. Die Zuschauer sitzen quasi an der Außenlinie, ohne Zäune. Dennoch stürmen nie Leute aufs Feld, außer vielleicht Flitzer. Bei Getty Images haben wir ein picture of the week contest. Die besten Fußballbilder kommen oft von englischen Kollegen, die durch die Nähe und Enge der englischen Stadien viel mehr Ausdrucksstärke einfangen können.

Gibt es dennoch ein deutsches Stadion, das Dich beeindruckt?
Matthias:
Vor den Stehrängen in Dortmund zu arbeiten, ist schon der Wahnsinn. Im positiven, wie im negativen Sinn. Dort ist immer was geboten. Die Fans machen ständig Alarm, da kriegst Du schon Gänsehaut. Zugleich ist es für uns Fotografen eine der härtesten Kurven der Liga. Je enger die Stadien, desto näher die Fans. Sie machen sich regelmäßig einen Spaß daraus, die Laptops der Fotografen als Zielscheibe zu benutzen. Auch die verbalen Entgleisungen mancher Fans sind mitunter echt krass. Sich das 90 Minuten anzuhören, ist grenzwertig. Zudem sind Bierduschen die Regel. Aber mit der Zeit eignet man sich ein dickes Fell an. Nicht umsonst gehören Regenjacke und Regenhose zu meiner Standardausrüstung.

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Offizielle Shootings von Teams und Spielern – wie hier beim FC Bayern – gehören zum Jobprofil von Matthias Hangst.

Du fotografierst Fußballer nicht nur bei Spielen, sondern fertigst auch Portraitaufnahmen an. Entstehen daraus Bekanntschaften oder gar Freundschaften?
Matthias:
Nein. Ich trenne strikt den beruflichen vom privaten Bereich. Die Profis sind mittlerweile deutlich jünger als ich. Sie sind Millionäre und leben in einem vollkommen anderen Umfeld. Ich verspüre keinerlei Bedürfnis dort anzukommen.

Gibt es einen Fußballer, den Du besonders faszinierend findest?
Matthias: Lionel Messi. Ihn Fußball spielen zu sehen ist beeindruckend. Er ist so ballsicher und schnell. Von uns Fotografen werden oft Zweikampfbilder gefordert. Bei Messi kommt es dazu oft gar nicht. Bei ihm ist vieles wenig vorhersehbar, was es für uns Fotografen schwer macht. Aus sportfotografischer Sicht, hätte ich es sehr interessant gefunden, wenn Messi den WM-Pokal gewonnen hätte. Er wäre damit in die Liga der Ikonen aufgestiegen, so wie Maradona. Da hätte sich ein Kreis geschlossen und letztlich geht es im Sport um Personen. Es gibt in der Sporthistorie kaum Teams, an die man sich erinnern wird, an Einzelspieler sehr wohl.

Du sagtest, es ist schwer Messis Aktionen vorherzusehen. Ist Antizipation bei einem Wettkampf das A und O des Sportfotografen?
Matthias:
Antizipation ist in unserem Beruf extrem wichtig. Wir müssen sofort im Spiel sein. Mit der Zeit entwickelt man ein Gespür für den richtigen Moment und drückt dann intuitiv ab. Ein Fußballspiel ist dabei noch nicht einmal so herausfordernd.

Welche Sportart fordert Dich mehr?
Matthias: Es ist immer gut Sportarten zu fotografieren, die Du selbst noch nie vor der Linse hattest. Dabei kannst Du enorm viel hinzulernen. Eine der herausforderndsten Sportarten ist für mich Wasserball. Du sitzt als Fotograf am Beckenrand und kannst durch die Brechung des Lichts nicht unter Wasser schauen. Die Zweikämpfe werden in der Regel aber genau dort geführt. Wenn ein Pass den Adressaten erreicht, kann der schon wieder unter Wasser gedrückt worden sein. Du musst also schon wissen, was passieren könnte, wenn ein Spieler zum Pass ansetzt.

Hast Du vor einer Fußballbegegnung ganz konkrete Bilder im Kopf, die Du schießen willst?
Matthias:
Ich finde es ist ein guter Ratgeber, sich vorher bewusst nicht zu viele Gedanken zu machen. Bei der WM in Brasilien hatte ich aber doch ein ganz bestimmtes Bild vor Augen. Es gibt dieses berühmte Foto von Maradona bei der WM 1982. Er ist darauf zu sehen, wie er der halben belgischen Mannschaft  gegenübersteht. Eine ähnliche Szene wollte ich mit Messi einfangen. Dafür habe ich mich beim Spiel gegen die Schweiz freiwillig auf die Tribüne gesetzt, was bei uns Fotografen eigentlich keiner gerne macht. Letztlich konnte ich einen Moment festhalten, in der er von vier Schweizern umringt ist, einen Pass spielt und die Gegenspieler nur zuschauen können. Dazu gehört immer ein wenig Glück.

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Ein Motiv, das Matthias Hangst bei der WM bewusst von Lionel Messi einfangen wollte.

Du sprachst das berühmte Maradona-Foto an. Seid ihr euch als Sportfotografen bewusst, dass ihr Bilder und damit Spieler inszeniert, beziehungsweise mit den Erwartungen der Zuschauer spielt?
Matthias:
Das sehe ich anders. Ein Fotograf bildet nur das Spiel ab. Die Interpretation und Deutung des Bildes kommt vom Zuschauer. Wir müssen bei internationalen Fußballspielen in einem vorgegebenen Raum von oft wenigen Metern arbeiten. Unsere Möglichkeiten sind deshalb von vorne herein eingeschränkt.

Imponieren Dir bestimmte Bilder von anderen Fotografen?
Matthias:
Da fallen mir spontan zwei ein. Allerdings keine Fußballbilder, da es der Sport ist, der wahrscheinlich am besten ausfotografiert ist. Das eine Bild stammt von Neil Leifer, in dem Muhammad Ali über dem am Boden liegenden Kontrahenten die Faust ballt. Eine unglaublich emotionale und präzise Aufnahme, gerade angesichts der damaligen Technik. Ich frage mich oft, wie das in den 1960ern, 1970ern ging, so ganz ohne Autofokus. Die Auge-/Handkoordination muss überragend gewesen sein. Das andere Bild ist von Carl Yarbrough, der Skifahrer Hermann Maier 1998 in Nagano fotografiert, wie er kopfüber abhebt. Yarbrough hatte sich auf einen Baum festgegurtet und dennoch das Bild gestochen scharf aufgenommen, obwohl Meier förmlich über die Kuppe geflogen kam. Chapeau.

Du hast die WM in Brasilien bereits angesprochen. Was bedeutet einen Monat Fußball-WM für einen Fotografen?
Matthias:
Stress. Als freier Fotograf war das oft ein Horrortrip, da ich mich um alles selbst kümmern musste. Ich habe am besten jeden Tag ein Spiel mitgenommen, um genug Material anbieten zu können. Ich habe über Wochen nur rund drei bis vier Stunden pro Nacht geschlafen. Das zehrt. Die WM 2002 in Japan war besonders extrem. Ich bin vier Wochen mit 40 Kilo Gepäck und Ausrüstung gereist und habe alles mit in die Stadien geschleppt. Jetzt bei Getty Images war das in puncto Sicherheit, Reiselogistik und Akkreditierung perfekt organisiert. Als Fotograf willst Du solche Rahmenbedingungen. Du willst fotografieren. Du musst einigermaßen regelmäßig essen und schlafen. Dennoch bleibt eine WM ein Ausnahmezustand. Es herrscht große Freude und zugleich Anspannung. Das Niveau der Fotografen ist bei einem solchen Turnier immens hoch. In Brasilien hatte allein Getty Images fünf Siebenerteams im Einsatz. Zwei davon blieben am Ende übrig und ich war glücklicherweise in einem der beiden.

Kannst Du ein solches Weltereignis überhaupt angemessen „aufsaugen“?
Matthias:
Eher im Nachhinein. Komischerweise war ich selten so unaufgeregt, wie beim WM-Finale von Rio. Für mich waren an dem Tag der Ausgang und damit der deutscher WM-Sieg irrelevant. Ich wollte einen Job gut machen und dann geht bei so einem Spiel ohnehin alles Knall auf Fall.

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Ein Bild, das viele vom WM-Finale kennen dürften. Matthias Hangst hat es geschossen.

Gab es während der vier Wochen einen besonderen WM-Moment für Dich?
Matthias:
Nach dem Spiel zwischen Argentinien und Belgien gab es einen solchen Moment. Die Argentinier haben ein berühmtes Schmählied gegen die Brasilianer. Als das Stadion schon fast leer war, begannen 200 bis 300 Argentinier auf einer Tribüne das Lied zu singen. 30 Minuten später waren plötzlich 3.000 bis 4.000 Argentinier dort und singen gemeinsam dieses Lied. Mein Job war getan und ich konnte diese Situation auf mich wirken lassen. Es war ein gutes Beispiel für die Emotionalität der Südamerikaner. Für sie bedeuten der Fußball und ihre Mannschaft enorm viel. Fußball ist fast schon eine Religion.

Welche Fußballpartien haben sich bei Dir ins Gedächtnis eingebrannt?
Matthias:
Da gibt es einige, wenngleich es eher Situationen als ganze Spiele sind. Da ist das WM-Finale 2002 in Yokohama, wie Kahn am Pfosten sitzt und das Spiel sacken lässt. Die Partie hat vielleicht sogar mein Leben verändert, da ich eigentlich noch studieren wollte. Mit einem WM-Sieg der deutschen Mannschaft wäre das ein fast perfekter Zeitpunkt für einen Schlussstrich gewesen, obwohl ich damals ja erst 24 war. Stattdessen blieb ich dabei und habe nicht studiert.
Dann erinnere ich mich noch gut an das Champions-League-Finale 2008 in Moskau. Ich habe gesehen, wie Ballack beim Elfmeterschießen mit seinen Mitspielern von Chelsea im Mittelkreis steht und abgedrückt, als sein Teamkollege verschoss. Ballack brach förmlich zusammen. In dem Moment wusste ich, er wird den Titel nicht mehr gewinnen. Besonders war natürlich das Finale 2005 in Istanbul, als Liverpool das Spiel gegen Milan gedreht hat. Das war schon verrückt.

In welchem Stadion fotografierst Du lieber? Im alten Karlsruher Wildpark oder in der modernen Allianz-Arena?
Matthias:
Im Wildpark sind wahrscheinlich schönere Bilder möglich. Das Licht spielt für uns Fotografen ja eine ganz besondere Rolle, da wir damit tolle Effekte erzielen können. So etwas geht in einem alten Stadion, die zumeist relativ offen sind, oft noch besser. Im alten Darmstädter Böllenfalltor kann man etwa von der Gegengerade aus Szenen mit tollen Sonnenuntergängen einfangen. Fakt ist aber auch, ein schönes Bild aus der Allianz-Arena lässt sich weltweit vermarkten. Abgesehen davon bieten sich selbst in der Kreisliga C viele Gelegenheiten tolle Momente festzuhalten.

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Eine Szene aus dem Zweitligaspiel zwischen Karlsruhe und Nürnberg. Matthias Hangst nahm es im Wildparkstadion auf. 

Wie hat sich der Fußball eigentlich verändert, seitdem Du vor rund 15 Jahren begonnen hast?
Matthias:
Die heutigen Spielsysteme sind relativ fotografenunfreundlich geworden. Schnelle Positionswechsel und schnelles Passspiel sind Trumpf. Wenn Bayern klar überlegen ist, erinnert es an Handball. Klassische Zweikämpfe im offensiven Mittelfeld finden kaum noch statt. Solche Aufnahmen werden natürlich immer von uns gefordert. Was die Rahmenbedingungen angeht, so finde ich die Professionalisierung und Kommerzialisierung konsequent, ohne sie jetzt gutheißen zu müssen. Fußball ist Sport und Unterhaltung. Es ist eine Show!

Du hast schon zigmal in Wimbledon und bei Olympischen Spielen fotografiert. Was macht diese Wettbewerbe aus?
Matthias:
Wimbledon hat seine ganz eigene Atmosphäre. Dort gibt es keine Werbung. Es wird Dir vermittelt, es gehe nur um Sport, was so natürlich nicht ganz stimmt. Ich kann zwölf Stunden am Stück fotografieren und den richtigen Einfall des Sonnenlichts perfekt abpassen. Als Fotograf erfährst Du dort eine enorme Wertschätzung und sie haben früh die Möglichkeiten des Social Media erkannt. Als ich als offizieller Fotograf des Veranstalters tätig war, hat es vom Auslösen meines Bildes bis zu dessen Einbindung in einen offiziellen Tweet zwölf Sekunden gedauert. Das ist unfassbar. Auf der anderen Seite setzen die Olympischen Spiele ihre Maßstäbe. Du hast die Möglichkeit in kurzer Zeit auf engem Raum viele Sportarten komprimiert abzulichten. Es herrscht eine enorme und reizvolle Vielfalt. Zudem gibt es dort keine Werbebanden und das ist fotografisch gesehen unglaublich schön.

Wirst Du Dich in diesem Jahr wieder für das Sportfoto bewerben?
Matthias:
Das geht leider nicht. Als letztjähriger Gewinner sitze ich automatisch in der Jury.

Wird die Fußballfotografie weiterhin den Hauptteil Deiner Arbeit ausmachen?
Matthias:
Absolut. In Deutschland ist Fußball marktführend. Das Interesse und somit die Nachfrage sind dementsprechend groß. Mein Spitzenwert liegt bei rund 150 fotografierten Fußballpartien in einem Jahr, dabei legte ich 80.000 Kilometer zurück. Ich würde zwar gerne wieder mehr andere Sportarten wie Basketball, Handball oder Leichtathletik machen, aber letztlich sind die Kunden im Fußball und dort fließt das Geld.

Matthias, herzlichen Dank für das ausführliche Gespräch. Dir weiterhin viel tolle Spielszenen und weniger Bierduschen in den Stadien.

Visit:
http://www.matthiashangst.com/willkommen
http://www.gettyimages.de/editorialimages/sport

5 Gedanken zu “„Die WM war vier Wochen Ausnahmezustand“

  1. Hallo Platzwart M.,
    schönes Interview! Sehr interessant, mal Perspektive, Herausforderungen und Arbeitsbedingungen eines Sportfotografen kennenzulernen. Danke auch für die vielen Hintergründe zu den Lilien. Wünsche dir für 2015 weiterhin solch gute Einfälle.
    Viele Grüße
    Hennes

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