Torsten Lieberknecht ist nicht mehr Trainer des SV Darmstadt 98. Nach genau drei Jahren und zwei Monaten bat der 51-Jährige den Sportverein, die Zusammenarbeit zu beenden. Länger als Lieberknecht stand in den vergangenen Jahrzehnten nur Dirk Schuster während seiner ersten Amtszeit an der Seitenlinie des SVD. Wie auch Schuster war es Lieberknecht gelungen, mit den Lilien in die Bundesliga einzuziehen. Eine gute Tat, die letztlich zum Fluch wurde. (Bildquelle: SV 98)
Vor ziemlich genau sechs Wochen saß ich Torsten Lieberknecht gegenüber. Zum dritten Mal durfte ich mit ihm das Saisonauftakt-Interview für den Lilienkurier, das Stadion-Magazin der 98er, führen. Ich sprach anderthalb Stunden mit einem Mann, der wie bei unseren vorherigen Begegnungen offen und ehrlich antwortete. Ich traf auf einen Mann, der sich sehr viel Zeit nahm und der nahbar war. Ich traf auf einen Mann, der mir proaktiv sagte, wo er in meinem vorangegangenen Saisonfazit, das ich im P-Stadtkulturmagazin gefällt hatte, nicht mit mir übereinstimmte. Gleichwohl ruhig und völlig sachlich. Und ich traf auf einen Mann, der sich auf die anstehende Saison freute und der entspannt wirkte. Das überraschte mich, denn am Ende der Vorsaison hatte Lieberknecht durchblicken lassen, dass er die Bundesliga nie genießen konnte. Wie auch, die Saison geriet spätestens nach dem ersten Viertel zu einer schrecklichen Spielzeit. Er sagte wortwörtlich: „Wenn Du in diesem Geschäft an vorderster Front bist, dann weißt Du, dass es während einer Saison nichts zu genießen gibt.“
Kollegen- und Fanzuspruch sowie Paul Fernie gaben ihm nach Erstligajahr Energie
Dass er dann in der kurzen Sommerpause wieder Kraft sammeln und Vorfreude aufbauen konnte, lag maßgeblich daran, dass er viel Zuspruch aus der Trainergilde bekommen habe. Namentlich von Oliver Glasner, der inzwischen in der Premier League coacht: „Das hat geholfen, in der Trainertätigkeit und in meinem Trainerwissen bestätigt zu werden.“ Lieberknecht nannte auch Paul Fernie als Hilfe. Der neue sportliche Leiter habe sich als Außenstehender ein Bild von der Trainingsarbeit, den Ansprachen und den Ideen machen und mitanalysieren können. Im Wissen, dass Lieberknecht nur sechs Wochen später hinwirft, wirken diese Sätze besonders. Sie legen nahe, dass die vergangene Saison doch Spuren hinterlassen hatte und einen verpatzten Saisonstart später zur Trennung führte. Der Zuspruch von Trainerkollegen und die Rückendeckung von Fernie hatten Lieberknecht zunächst jedenfalls gut getan. Nach einer Saison mit nur drei Siegen und 17 Punkten, nur zu verständlich.
Er nannte neben seiner Familie einen weiteren Grund, warum er wieder Energie habe schöpfen können: „Der Zuspruch von Fans aus Darmstadt, hat mir auch über die Saison hinweg geholfen.“ Das zeigt, dass Lieberknecht nie aufgehört hatte, sich selbst zu hinterfragen. Er ist jemand, der Stimmungen um sich herum wahrnimmt und reflektiert. Und er ist jemand, dem die Fans wichtig sind. Das hatte er in jedem Gespräch mit mir betont und das gipfelte ihn zwei Aussagen, die er anderswo getätigt hatte. Erstens: Spieler und Trainer seien im Gegensatz zu den Fans immer nur zu Gast in einem Klub. Und zweitens: „Ich habe immer betont, dass keiner über dem Verein steht. Das gilt auch für mich.“
Elversberg-Spiel als Offenbarungseid
Mit dem letzten Satz formulierte Lieberknecht seinen Abschied auf der Vereinshomepage. Die desaströse 0:4-Niederlage am gestrigen Samstag in Elversberg hatte ihn nachhaltig erschüttert. Wer seinen Aussagen bei der PK nach Spielende folgte, der sah einen schwer getroffenen Coach. Einen Trainer, der glaubte, mit der gleichen Startelf wie gegen Nürnberg eine Elf gefunden zu haben, die belastbar ist und die funktioniert. Nun, sie funktionierte von der ersten Spielminute an nicht. Sie entpuppte sich als ein fragiles Gebilde, die auf einen griffigen und strukturierten Gegner traf. Auf einen Gegner, der sich die Lilien zurechtlegte und die daraufhin in sich zusammenfielen. Lieberknecht sprach in der PK gar davon, dass er sich von der Mannschaft komplett im Stich gelassen fühle. Insofern musste er zu der Erkenntnis gekommen sein, aus dieser neu zusammengestellten Mannschaft nicht so recht schlau zu werden und nicht der richtige Coach für sie zu sein. Selbst, wenn er mir vor sechs Wochen noch versicherte, voller Vorfreude auf die neue Saison zu schauen.
Auf eine Zweitligaspielzeit mit neuen Spielern, die laut Lieberknecht schnell eine Identifikation aufbauen könnten mit den vorhandenen Spielern und mit dem Verein. Mit Spielern, die verschiedene Facetten mitbrächten: Strategen, Arbeiter und Spieler mit Potenzial. „Das Team wirkt sehr homogen, alle haben einen gewissen Spielwitz.“ Lieberknecht erwähnte mehr Tempo, hohes Pressing, mehr Umschaltmomente im Spiel der Lilien und ruhigere Phasen gepaart mit für den Gegner stressigere Phasen. Von all diesen Dingen war gestern in Elversberg rein gar nichts zu sehen. Es stand eine Mannschaft auf dem Platz, die sich selbst fremd war, die – wie schon in der Bundesliga – keine Resilienz aufbaute, die keine Anker- oder Führungsspieler hatte und die sich vom Gegner überrennen ließ.
Bundesligaspielzeit als Horrorshow
Ein Bild, das frappierend an die letztjährige Erstligasaison erinnerte. Auch da spielten die 98er zwar punktuell gallig und gefällig. In der Regel präsentierten sie sich jedoch in einem bemittleidenswerten Zustand. Hatten die Lilien unter Lieberknecht zwei Zweitligaspielzeiten lang aufgetrumpft, sich stabil, effizient, homogen und für die Gegner unangenehm gezeigt, so war von alledem in der Erstligaspielzeit nichts mehr zu sehen. Streng genommen schon seit dem Kiel-Spiel am 30. Spieltag der Aufstiegssaison nicht mehr. Hatte Lieberknecht 2021/22 und 2022/23 im Schnitt sagenhafte 1,9 Punkte pro Spiel errungen. So folgten seither in 38 Ligapartien keine 0,5 mehr.
Besonders die zuvor so starke Defensive erlitt mit dem Erstligaaufstieg Schiffbruch. In nur drei der letzten 38 Ligaspiele fing der SVD kein Gegentor. In 17 erzielten die Kontrahenten gar drei oder mehr Gegentore. Seit April beträgt das Torverhältnis 4:29. Seit Saisonbeginn in der 2. Bundesliga 2:10. Mit dem Absinken auf den vorletzten Tabellenplatz sah Lieberknecht seine Mission beendet. Die gute Tat des Bundesliga-Aufstiegs entpuppte sich als viel zu schwere Bürde. Der Aufstieg erscheint rückbetrachtend als Überperformance eines Teams, das der Bundesliga zu keinem Zeitpunkt gewachsen war. Das zudem – auch wenn man das Verletzungspech nicht unerwähnt lassen sollte – nicht entscheidend verstärkt worden war. Und das obendrein mit Angreifer Phillip Tietz einen nicht zu ersetzenden Spieler verlor. Lieberknecht machte mir gegenüber seinen Verlust (neben dem mangelndem Tempo im Kader) als entscheidendes Manko in der Bundesliga aus. Der Tietzer sei jemand gewesen, der neben seinen sportlichen Qualitäten auch in der Kabine wichtig war. Lieberknecht meinte, Tietz sei jemand, der die Kabine „auch in Momenten der Trübsal mit Licht erhellen konnte“. Ein Licht, das fehlte.
Lieberknecht über Gebühr gefordert
Hinzu kam: Lieberknecht musste in der Bundesliga eine Zusatzbelastung stemmen. Als im Winter der sportliche Leiter Carsten Wehlmann sehr unvermittelt kündigte und der Verein ihn dann sofort freistellte, da war Lieberknecht nicht mehr nur Trainer. Er war mitverantwortlich Neuzugänge zu finden und für die 98er zu gewinnen. Und er war bis zu Paul Fernies Inthronisierung dreineinhalb (!) Monate lang an vorderster Front gefordert. Er war der erste und letztlich einzige Vereinsvertreter, der Woche für Woche Stellung beziehen musste. Hilfestellung sieht anders aus. Nicht zuletzt dafür gebührt ihm Respekt.
Und so verlässt ein Trainer die Lilien, der sich dem Verein wie kein Zweiter verschrieben hatte. Denn auch der in Darmstadt immer noch populäre Dirk Schuster ist im Vergleich zu Lieberknecht ein eher spröder Charakter. Und so zählt Lieberknecht zu den vier Trainern der Lilien-Historie, denen mit dem SVD ein Aufstieg in die Bundesliga gelang. Seine Verdienste werden in Erinnerung bleiben, auch wenn sich zum Ende hin die Stimmen deutlich mehrten, die seinen ausbleibenden sportlichen Erfolg als Trennungsgrund befürworteten. Dass er nun von sich aus einen Schlussstrich zog, ist ihm persönlich hoch anzurechnen und dürfte den Lilien obendrein Gehaltsausgaben bis 2027 ersparen.
Wohl der Fans und Spieler an erster Stelle
Wie hatte Lieberknecht mir noch vor sechs Wochen auf meine Frage geantwortet, womit er in der Winterpause zufrieden wäre? „Wenn wir nach unten einen Abstand haben und nach oben in Schlagdistanz sind. Ich wäre aber am meisten zufrieden, wenn die Fans nach Partien heimgehen und sagen: Geil, es hat sich im Vergleich zur letzten Saison etwas verändert. Das würde sich auch positiv auf die Zuneigung gegenüber den Spielern auswirken.“ So ist er, ein Mensch und Trainer, dem das Wohl der Fans und seiner Spieler am Herzen liegt. Beides fußt freilich auf erfolgreichem Fußball. Einen solchen hatte Lieberknecht zu lange nicht mehr spielen lassen oder spielen können. Nun müssen sein Nachfolger und die Spieler zeigen, dass sie es besser können. Sie müssen im weiteren Saisonverlauf die Verpflichtung haben, die Lilien aus dem Gröbsten rauszuhalten.
Doch am Ende des heutigen Tages steht: Torsten, vielen Dank für Dein Engagement, Dein Herzblut und Deine Identifikation mit dem SVD, die über zwei Jahre lang in einen erfolgreichen Fußball mündeten!!
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