Venezuela: Fußballzwerg mit Wachstumsschub

Gegen alle Nationalteams des südamerikanischen Fußballverbandes CONMEBOL hat die deutsche Nationalelf bereits Länderspiele bestritten. Einzig Venezuela fehlt noch in der Statistik. Das mag daran liegen, dass der Fußball dort lange Zeit keinen hohen Stellenwert besaß. Zudem haben sich die venezolanischen Kicker noch nie für eine Weltmeisterschaft qualifiziert. Das könnte sich bald ändern, erweist sich der einstige Fußballzwerg Südamerikas doch immer häufiger als ebenbürtiges Team.

San Cristobal, 15. November 2011: Durch ein wuchtiges Kopfballtor besiegelt Verteidiger Oswaldo Vizcarrondo den 1:0-Sieg Venezuelas im WM-Qualifikationsspiel gegen Bolivien. Augenblicklich verwandelt sich das Estadio Polideportivo de Pueblo Nuevo in ein Tollhaus. Dank dieses Erfolges belegt die Nationalelf Venezuelas, die die Fans aufgrund ihrer Trikotfarbe „Vinotinto“ nennen, Rang 3 in der Südamerikagruppe. Besser stehen nach vier Spieltagen nur Uruguay und Argentinien da. Vier der neun Verbände qualifizieren sich für die WM 2014, Brasilien ist als WM-Gastgeber gesetzt. Selbst das fünftplatzierte Team trägt noch ein Play-off gegen ein Team eines anderen Kontinentalverbandes aus. Venezuela liegt also nach einem Viertel der Qualifikation gut im Rennen. Eine Perspektive, die noch vor wenigen Jahren utopisch schien.

Startschwierigkeiten: Eine verspätete Fußballnation
Im Gegensatz zu den anderen südamerikanischen Nationen ist Fußball in Venezuela kein Nationalsport. Rund um Caracas und Maracaibo entwickelte sich Anfang des 20. Jahrhunders Baseball zum populärsten Sport. Ins Land gebracht hatten ihn in den USA studierende Venezolaner und amerikanische Geschäftsleute. Durch den Ölreichtum des südamerikanischen Landes blieb der US-amerikanische Einfluss stark und mit ihm die Vorrangstellung des „beisbol“. Die 1927 einsetzende Professionalisierung, drei Weltmeistertitel in den 1940er Jahren und bis heute über 200 Venezolaner, die den Sprung in die US-amerikanische Major League Baseball (MLB) schafften, taten ihr Übriges, um „beisbol“ zum Nationalsport zu machen. Fußball entwickelte sich dahingegen mehr schlecht als recht. Erst 1952 trat die Federación Venezolana de Fútbol (FVF) der südamerikanischen CONMEBOL und dem Weltfußballverband FIFA bei, so spät wie kein anderer südamerikanischer Verband.

Bis ins Jahr 2000: Ein bemitleidenswerter Fußballzwerg
Für eine Weltmeisterschaft wollte sich die FVF erstmals 1966 qualifizieren. Die Nationalelf kassierte in den vier Spielen nur Niederlagen und fuhr folglich nicht zur Endrunde nach England. Zwei Jahre später kam es zur Premiere bei der seit 1916 ausgetragenen Copa América, der Südamerikameisterschaft. Neben vier zum Teil heftigen Niederlagen konnte immerhin Bolivien geschlagen werden. Die mangelnde Konkurrenzfähigkeit der Nationalelf unterstreicht die Tatsache, dass der zweite Copa-Sieg erst 2007 (!) folgte. Dazwischen blieb der Vinotinto nur die Rolle des Punktelieferanten.
Das gleiche Bild bei den Qualifikationen zu den WM-Endrunden. Den ersten Sieg errang die FVF-Auswahl 1981, der zweite ließ weitere zwölf Jahre auf sich warten. Bis zur Jahrtausendwende holte Venezuela aus 52 WM-Qualifikationsspielen nur zwei Siege und sechs Unentschieden. Die Tordifferenz lautete -132.
Der Misserfolg des Nationalteams spiegelt sich auch in der seit 1993 eingeführten FIFA-Weltrangliste wieder. Ende 1998 rutschte die Vinotinto auf Platz 129 ab. Bis Oktober 2002 war sie stets das schwächste südamerikanische Team, dann konnte mit Bolivien erstmals ein CONMEBOL-Rivale hinter sich gelassen werden.

2000-2010: Die Vinotinto spielt langsam mit
Seit der Qualifikation für die WM 2002 erzielt die venezolanische Nationalelf deutlich bessere Ergebnisse. Unter Trainer Richard Paez begann 2001 ein langsamer, aber stetiger Aufschwung. Bereits die Quali für die WM 2002 beendete die Vinotinto nicht mehr auf dem letzten Platz. Fünf Siege (u.a. der erste Auswärtssieg in Chile) und ein Remis bedeuteten Rang 9. Die Qualifikationen zu den Endrunden 2006 in Deutschland und 2010 in Südafrika brachten noch bessere Resultate. Beide Male beendete die Nationalelf die Quali auf dem achten Platz. Zuletzt gar mit stolzen 22 Punkten (6 Siege, 4 Unentschieden, 8 Niederlagen). Auf den späteren WM-Halbfinalisten Uruguay, der sich den Play-off-Platz ergatterte, fehlten nur ganze zwei Pünktchen.
Auch in der Copa América stellten sich zuletzt Erfolge ein. 2007 beherbergte Venezuela erstmals das älteste Kontinentalturnier und überwand endlich einmal die Vorrunde. Bei der diesjährigen Auflage toppten die venezolanischen Kicker dann alles bisher dagewesene. Zwei Remis gegen Brasilien und Paraguay sowie einem Sieg gegen Ecuador folgte der Viertelfinaleinzug, wo Chile ausgeschaltet werden konnte. Im Halbfinale behielt Paraguay erst im Elfmeterschießen die Oberhand, das Spiel um Platz 3 ging dann gegen Peru verloren. Durch die guten Resultate 2007 und 2011 schraubte die Nationalelf ihre Gesamtpunktausbeute bei der Copa von zuvor (1967-2004) zehn auf 24 Punkte!

Die Jungen machen es vor: Die U-20 schnuppert WM-Luft
Den Aufbruch des venezolanischen Fußballs symbolisiert beispielhaft die U20-Nationalmannschaft, die sich 2009 für die WM in Ägypten qualifizierte. Abgesehen von den Boykott-geplagten Olympischen Spielen 1980 in Moskau, bei denen die Fußballer Venezuelas als Nachrücker teilnahmen, war dies die erste Qualifikation einer venezolanischen Nationalelf für ein Weltturnier. In der Qualifikation ließen die jungen Vinotintos die traditionell starken argentinischen Junioren hinter sich. Bei der Endrunde erreichte die U-20 nach zwei Siegen gegen Nigeria und Tahiti das Achtelfinale, in dem sie kurz vor Schluss mit 1:2 den Vereinigten Arabischen Emiraten unterlagen. Mit Yonathan del Valle und Salomon Rondon (beide vier Treffer) stellten sie immerhin das treffsicherste Angriffsduo des gesamten Turniers.

2014 im Blick: Alles ist drin
Beide haben es mittlerweile in die Nationalelf der Herren geschafft, wobei bisher nur Rondon beim vielversprechenden Start in die Quali für die WM 2014 mitwirkte. Einer Auftaktniederlage in Ecuador folgte ein sensationeller 1:0-Erfolg gegen Argentinien. Messi, Agüero & Co unterlagen zum ersten Mal überhaupt einer Elf aus Venezuela. Einem Remis beim Nachbarn aus Kolumbien folgte dann der eingangs erwähnte 1:0-Sieg über Bolivien. Noch stehen zwölf Qualifikationsspiele aus. Da WM-Rekordteilnehmer Brasilien aber als Gastgeber keinen Qualiplatz blockiert, rechnet sich die Vinotinto beste Chancen aus, erstmals an einer Endrunde teilzunehmen. Die zurückliegenden Erfolge bei der Copa América und in der WM-Quali katapultierten Venezuela zudem auf Rang 39 in der FIFA-Weltrangliste. Ein Allzeit-Hoch!

Die Erfolgsfaktoren der Vinotinto
Was sind letztlich die Erfolgsfaktoren der Vinotinto? Einer Nationalelf, die über Jahrzehnte notorisch sieglos blieb, seit 2000 aber offensichtlich einen Schalter umgelegt hat. Hierfür gibt es mehrere Erklärungen:

  • Die Trainer:
    Trainer Richard Paez schuf von 2001 bis 2007 elementare Grundlagenarbeit. Er bläute seinen Spielern unter Zuhilfenahme von Psychologen ein, dass sie zu mehr fähig sind. Er verpasste ihnen eine bessere Organisation und eine reifere Spielanlage, was im Gegenzug wieder das Selbstvertrauen förderte und somit eine Aufwärtsspirale in Gang setzte. Zudem profitierte Paez von einigen herausragenden jungen Kickern um Juan Arango, die für den dringend benötigten frischen Wind sorgten.
    Cesar Farias konnte ab 2008 an die Vorarbeit von Paez anknüpfen. Er legt einen noch stärkeren Akzent auf die Jugendförderung und coachte konsequenterweise das U-20-Team bei der WM 2009. Mit seinen 38 Jahren ist er ein Trainer der jungen Generation, der auch für unorthodoxe Maßnahmen gut ist. So nominierte er für den ersten Doppelspieltag der aktuellen WM-Quali zwei unterschiedliche Teams. In der Höhenluft Ecuadors bot er eine Mannschaft auf, die überwiegend aus Profis bestand, die in der heimischen Liga spielen. Letztlich erfolglos, die Partie ging mit 0:2 verloren. Gegen Argentinien spielte wenige Tage später das nominell stärkste Aufgebot mit allen Legionären, die dann den Sensationssieg einfuhren. Die Taktik, in den Anden mit einem Team aus Profis der heimischen Liga anzutreten, hatte er 2009 schon einmal in der bolivianischen Hauptstadt La Paz gewählt. Damals mit einem 1:0-Erfolg.
  • Die Rahmenbedingungen:
    Der venezolanische Verband verzahnte Anfang 2000 den Amateur-, mit dem Profifußball besser, was der Förderung junger Fußballer entgegenkam. Der Erstligabetrieb wurde 1999 ebenso reformiert. Vor einigen Jahren erweiterte die CONMEBOL die Teilnehmerzahl an der Copa Libertadores – der südamerikanischen Champions League. Davon profitieren auch die venezolanischen Top-Teams, die sich nun häufiger mit den starken Rivalen aus Argentinien, Brasilien und Uruguay messen können.
    Die Gastgeberrolle der Copa America 2007 befeuerte zusätzlich den Aufstieg der Vinotinto, konnte das gut spielende Heimteam doch erstmals breite Massen für ihren Sport begeistern. Das ölreiche Land leistete sich für die Copa zudem neue Stadien, was mehr Fußballfans komfortablere Stadionbesuche ermöglicht.
    Mitte der 1990er Jahre änderte die CONMEBOL zudem den Qualifikationsmodus für die WM-Turniere. Bis dahin spielten die Teams die WM-Fahrer innerhalb weniger Wochen in 3er oder 4er-Gruppen aus. Venezuela wurde immer starken Teams zugelost, so dass Niederlagen die logische Folge waren. Vergleiche mit den nächstschwächsten Mannschaften unter Wettbewerbsbedingungen blieben aus. Seit der Qualifikation für die WM 1998 spielen alle zehn Verbände über zwei Jahre in einer Gruppe jeder gegen jeden. So war Venezuela in der Lage sich kontinuierlich zu verbessern, gepaart mit immer häufigeren Erfolgserlebnissen.
  • Spieler in Topligen:
    In den letzten Jahren haben zahlreiche Nationalspieler den Sprung ins Ausland geschafft. Selbst in den europäischen Ligen tummeln sich immer mehr Kicker aus dem Land des einstigen Fußballzwergs. Aus der Bundesliga sind Tomas Rincon vom Hamburger SV und Juan Arango von Borussia Mönchengladbach bekannt. Nationalelf-Kapitän Arango absolvierte bereits vor seinem Engagement am Niederrhein 173 Spiele für den RCD Mallorca in der spanischen Primera División. In dieser spielen derzeit weitere Nationalspieler, u.a. die Stürmer Miku (Getafe CF) und der junge Salomon Rondon, der für den Malaga CF in 40 Liga-Spielen bereits 15 Mal erfolgreich war. Weitere Auswahlspieler sind bei Klubs in Frankreich, Belgien, Argentinien und Mexico unter Vertrag. Unter ihnen einige Spieler der jungen Generation, die noch für viele Jahre das Gerüst der Nationalelf stellen können.
  • Gewinn „verlorener“ Söhne:
    Fernando Amorebieta machte sich durch sein Kopfballtor beim 1:0-Sieg gegen Argentinien unsterblich. Dabei kennt er Venezuela kaum. Er ist zwar als Sohn eines Pelota-Profis in Venezuela geboren. Allerdings kehrten seine Eltern ins Baskenland zurück, als er zwei Jahre alt war. Als junger Fußballer errang er mit Sergio Ramos, Raul Albiol und David Silva die U19-Europameisterschaft für Spanien. Nachdem er 2008 zwar für die spanische Nationalelf nominiert wurde, dort aber nicht zum Zug kam, nahm er zuletzt dankend das Angebot der Vinotinto an. Das neue Verbandswechselrecht der FIFA machte einen solchen Wechsel möglich. Mit Andres Tunez und Julio Alvarez verhält es sich ähnlich. Auch sie kamen in Venezuela auf die Welt, kehrten aber bereits als Kleinkinder mit ihren Eltern nach Spanien zurück, wo sie heute bei Zweitligisten unter Vertrag stehen.
    Zu den jüngsten „Neuzugängen“ gehören die Feltscher-Brüder Frank (Grasshoppers Zürich) und Rolf (FC Parma) aus der Schweiz. Dank ihrer venezolanischen Mutter sind sie für die Vinotinto spielberechtigt, was sie zuletzt beim 1:0-Sieg gegen Bolivien taten. Beide reüssierten noch im Sommer für die U21-Auswahl der Schweiz und kamen bei den Eidgenossen auf 24, bzw. 12 Einsätze. Auch in Deutschland hat sich Nationalcoach Farias umgesehen. So hat er bereits Konakt zu Manuel Schmiedebach von Hannover 96 aufgenommen. Der 22-jährige Mittelfeldspieler könnte aufgrund seiner in Venezuela aufgewachsenen Mutter für das südamerikanische Land spielen. Generell unterstützt die Regierung in Caracas die Suche nach und die Einbürgerung von „verlorenen“ Söhnen großzügig. Venezuela profitiert so zunehmend von in Europa ausgebildeten und international erfahrenen Spielern.

Auf den Spuren von Trinidad & Tobago
Vieles deutet daraufhin, dass sich die Vinotinto tatsächlich für die WM 2014 qualifizieren kann. Aus der einstigen Schießbude Südamerikas ist eine stabile Nationalelf mit jungen und international erfahrenen Spielern geworden. Schon 2006 hat es ein Underdog, den Venezuela quasi immer vor Augen hat, auf die Weltkarte des Fußballs geschafft. Damals qualifizierten sich die Kicker der nur 11 Kilometer vor der venezolanischen Küste liegenden Karibikinseln Trinidad & Tobago für die Endrunde in Deutschland. Dies allerdings im Rahmen des karibisch-nordamerikanischen CONCACAF-Verbandes und der besteht nun mal aus zahlreichen Fußballzwergen.

3 Gedanken zu “Venezuela: Fußballzwerg mit Wachstumsschub

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