Michael Gabriel leitet die Koordinationsstelle Fanprojekte, kurz KOS, die sozialpädagogisch arbeitende Fanprojekte in Deutschland betreut. In seinem Berufsleben hat der 48-jährige schon viele Länder und unzählige Stadien besucht. Knapp drei Monate vor der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine spreche ich mit ihm über die Fankultur in Europa und was die nach Osteuropa reisenden Fans bei der EURO 2012 erwartet.
Michael, kannst Du dich noch an Dein erstes Mal in einem Fußballstadion erinnern?
Michael Gabriel: (überlegt) Der erste Stadionbesuch an den ich mich erinnern kann, war 1973 Eintracht Frankfurt gegen den VfB Stuttgart. Die Eintracht lag nach 67 Minuten schon mit 0:3 zurück und mein Vater wollte nach Hause, um die Sportschau nicht zu verpassen. Ich aber wollte bleiben, was sich auszahlen sollte. Die Eintracht gewann noch 4:3.
Wann und wo war Deine Fan-Premiere im Ausland?
Michael Gabriel: Das war 1992 mit der Eintracht im polnischen Lodz. Kurz danach führte der Europapokal die Eintracht und mich nach Istanbul zu Galatasaray.
Unterschied sich die Atmosphäre von der in deutschen Stadien?
Michael Gabriel: Oh ja. In Lodz haben sich die Fans in der Kurve schon umgedreht und sind kollektiv gehüpft. Das kannte ich nicht. So etwas gibt es in Deutschland erst seit dem Aufkommen der Ultra-Fanszene. Der Stadionbesuch bei Galatasaray war unglaublich intensiv. Vielleicht bis heute der beeindruckendste für mich. Schon 45 Minuten vor Spielbeginn war das Stadion voll und alle vier Tribünen, also auch die Haupttribüne, haben immerfort in die Fangesänge eingestimmt. Es war unfassbar laut.
Lässt sich auch heute noch landestypische Atmosphäre in den Stadien feststellen?
Michael Gabriel: Ich denke, dass sich das Niveau immer mehr angleicht. Vor allem die Ultra-Kultur hat in vielen Ländern Europas dazu beigetragen, dass ein vergleichbarer Support herrscht, mit einer zwar sangesgewaltigen Kurve, aber dann doch immer mehr vergleichbaren Liedern und mit immer weniger Spontaneität.
Dennoch gelten türkische Fans nach wie vor als feurig, englische als besonders leidensfähig? Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Stereotypen?
Michael Gabriel: Fußballkulturen entwickeln sich natürlich nicht außerhalb der sie umgebenden Gesellschaft, die wiederum bestimmten kulturellen Werten folgen. Der Support im Stadion und die Verbundenheit zum Verein sagen zugleich etwas über die nationale Bedeutung des Sports aus. Natürlich lassen sich anhand des Supports auf Vereinsebene immer auch Rückschlüsse über die soziale Verankerung und die Bedeutung des Clubs in der jeweiligen Stadtgesellschaft ziehen.
Welches Urteil lässt sich dann über eine Gesellschaft fällen, in der es massive Probleme mit gewalttätigen Fußballfans gibt?
Michael Gabriel: Hier spielen viele Faktoren rein. Welche soziale Bedeutung hat etwa der Sport in dem jeweiligen Land? Wie stark ist der Nationalismus in ihm ausgeprägt? Nehmen wir das Beispiel Italien. Mit Blick auf die politische Kultur dort, in der mafiöse und korrupte Verhaltensweisen an der Tagesordnung sind und wo Berlusconi eine rechtsextreme Partei in die Regierung geholt hat, darf man meines Erachtens über die Situation im italienischen Fußball nicht verwundert sein.
Mit der KOS steht ihr in einem regen Austausch mit ähnlichen Projekten in Europa. Worin unterscheidet sich die Behandlung von Fußballfans durch den Staat im europäischen Vergleich?
Michael Gabriel: Es geht ja immer darum, inwieweit die Interessen von Fans Berücksichtigung im Fußball finden. Und Fans bewegen sich in einem Feld, das von mächtigen Interessen besetzt ist – kommerziellen und Sicherheitsinteressen. Schauen wir zu den zwei großen Fußballnationen in Europa, Italien und England. In Italien wurde die aktive Fankultur vom Staat nur kritisch beäugt und sogar kriminalisiert. Es gab keinen Dialog, keine Einbeziehung, nur immer schärfere Gesetze und Ausschluss – am Ende absolut verhärtete Fronten. Dies hat in keinster Weise zu mehr Sicherheit geführt, sondern zu einer stetigen Verschärfung und schließlich zu einem massiven Zuschauerschwund. Große Teile oder bestimmte Schichten der Bevölkerung gehen heute kaum noch ins Stadion, auch weil sie von der massiven Korruption im italienischen Fußball die Schnauze voll haben.
In England gibt es hingegen kaum noch Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Fans oder zwischen verschiedenen Fangruppen. Das ist gelungen, weil die Fankultur über eine exorbitante Preispolitik aus dem Stadion gedrängt wurde. Junge und nicht so gut verdienende Anhänger wurden über diesen absolut unsozialen Weg aus dem Spiel gedrängt. Der Strukturwandel des englischen Fußballs weg vom Volkssport – „the peoples‘ game“ – hin zu einem global operierenden System der Unterhaltungsindustrie, in dem die Vereine Spekulationsobjekte von Finanzhaien aus Amerika oder Arabien sind, stellt meines Erachtens eine mindestens genauso große Gefahr dar, wie Italiens Law-and-Order-Weg.
Wie sieht es Deines Erachtens in Deutschland aus?
Michael Gabriel: Obwohl hier statistisch gesehen die Gewalt im Zusammenhang mit Fußballspielen etwas zugenommen hat, bleibt Deutschland für mich ein absolut positives Beispiel. Hier gibt es in den Vereinen wie auf nationaler Ebene starke Fanprojekte und eine aktive Fanarbeit, die sich für die Belange der Anhänger einsetzt und ihr eine Stimme gibt. In Deutschland kann mittlerweile kein Stadionum- oder -neubau mehr ohne die Mitsprache der Fans realisiert werden. Zwischen Polizei, Vereinen, Verbänden und Fans ist nach wie vor der Wille zu einem dialogorientierten Miteinander vorhanden. Daran ändert auch die verfahrene Pyrotechnikdebatte nichts. Obwohl sicher nicht perfekt, so ist für Deutschland dennoch zu konstatieren, dass die Bereitschaft, die Interessen der Fankultur in die Organisation des Fußballs einzubinden, deutlich höher ist, als irgendwo sonst.
Am 8. Juni 2012 beginnt die EURO. Du warst vor kurzem in der Ukraine. Was erwartet die Fans in Osteuropa?
Michael Gabriel: Das deutsche Team spielt zunächst in der Ukraine und das ist (betont) richtig, richtig Ausland. Man kann die kyrillische Schrift nicht lesen, die Sprache bietet keine Anhaltspunkte und auch auf Englisch ist eine Verständigung schwer möglich. Ich bin aber überzeugt, dass es für jeden mitreisenden Fan eine spannende und interessante Erfahrung werden wird, die sich ganz bestimmt lohnt. Gerade weil das Turnier in einer Region stattfindet, in der bisher keine Großereignisse stattfanden. Die Menschen, die wir bis jetzt kennengelernt haben, sind überaus freundlich.
Ähnlich wie bei der WM 2010 in Südafrika. Im Vorfeld gab es zwar viel negative Presse wegen der hohen Gewalt und Kriminalität. Die ausländischen Fans wurden aber für ihr Kommen belohnt. Die Freundlichkeit der Afrikaner war herzlich und ehrlich. Es gab überhaupt keine Probleme und das erwarte ich auch bei den kommenden Gastgebern.
Welche Fans erwartest Du bei der EURO?
Michael Gabriel: Es hat sich schon in den letzten Jahren gezeigt, dass immer mehr Eventfans von den großen Turnieren angesprochen werden. Eine Fortsetzung dieser Entwicklung erwarte ich auch bei der EURO. Dennoch werden dieses Mal sehr viele Groundhopper und „richtige“ Fans vor Ort sein, weil das Ausgangsbedingungen sind, die sie lieben.
Unterscheidet sich also die „Fanklientel“ der Nationalelf von der bei Ligaspielen?
Michael Gabriel: Das ist eine Beobachtung, die ich in Deutschland mache. Hardcore-Fans eines Klubs gehen nur sehr selten zu Länderspielen. Dorthin gehen eher Anhänger, die aus der „Diaspora“ kommen, die also keinen großen Heimklub besitzen oder keinen vor der Haustür haben.
Du betreust schon seit den 1990er Jahren Fans bei Europa- und Weltmeisterschaften vor Ort. Welches Turnier hat dich bisher am meisten beeindruckt?
Michael Gabriel: Eindeutig die EURO ’96 in England. Denn dort ging es um Fußball und nur um den Fußball. In einem englischen Pub den 4:1-Sieg der Engländer gegen die favorisierten Niederländer mitzuerleben, war faszinierend. Die englischen Fans waren ungläubig, wie beeindruckend ihr Team spielte und ihnen dämmerte langsam, was bei dem Turnier möglich sein könnte. Später war ja dann bekanntermaßen im Halbfinale gegen Deutschland Endstation. Die Atmosphäre war damals so fantastisch, dass die BBC ihre Vorberichterstattung für 15 Minuten unterbrach, nur um die großartigen Gesänge aus dem Stadion zu übertragen. „Footballs‘ coming home“!
Michael, vielen Dank für den Einblick in die europäische Fankultur und für den Ausblick auf die EURO. Dir und Deinen Mitstreitern viel Spaß in den Fan-Botschaften.
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