Die ganze Republik scheint heute nur ein Thema zu kennen: 4 zu 4! Die Euro-Krise? Hat Zeit bis morgen! Das Rededuell zwischen Obama und Romney? Schnee von gestern! Das in jeglicher Hinsicht bemerkenswerte Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen Schweden erregt die Gemüter und kann einfach nicht unkommentiert bleiben.
Der 16. Oktober 2012 wird in der deutschen Länderspielhistorie einen besonderen Platz einnehmen. Nach vier Toren Vorsprung noch den Ausgleich zu kassieren, das kennt der geneigte Sportfan bestenfalls vom Handball, vielleicht noch vom Eishockey, aber vom Fußball? Noch nie hat sich eine DFB-Auswahl derart spektakulär die Butter vom Brot nehmen lassen. Noch nie hat eine deutsche Nationalelf einen derart komfortablen Vorsprung hergeschenkt. Bis gestern Abend. Und jeder kann sich schon heute ausmalen, welch Folgen dies bei der Kommentierung folgender Länderspiele haben wird. Fortan werden es die Gerd Gottlobs, Tom Bartels‘ oder Béla Réthys bei einer deutlichen Führung nicht versäumen an diesen Abend in Berlin zu erinnern, sobald ein Gegentreffer im DFB-Gehäuse einschlägt. Und wer weiß schon, ob sich solche Gedanken nicht tatsächlich in den Köpfen der Spieler festsetzen?
Ratlosigkeit allerorten
Der Spielverlauf hinterlässt nur ratlose Gesichter. Einen Bundestrainer, der selten so ehrlich zugab keine Antwort darauf zu haben, was da gerade abgelaufen war. Eine Medienlandschaft, die in ihrer heutigen Berichterstattung mit ungewohnt vielen Fragezeichen operiert. Spieler, die ob des absurden Spielverlaufs wohl am meisten erschrocken und verwundert über ihren Leistungsabfall waren. Auch die ausländischen Beobachter reiben sich die Augen. Gleichwohl sie eine gewisse Schadenfreude nicht verbergen können. Da empfiehlt die russische Zeitung „Sowjetski Sport“ Gary Lineker, er solle seinen legendären Ausspruch abändern, der besagt, dass am Ende immer die deutsche Nationalelf gewinnt. Der „Independent“ aus England hat eine Kapitulation der deutschen Kicker gesehen. (Vielleicht ja eine Kapitulation vor der eigenen Überlegenheit?!?) Und Schwedens „Dagens Nyheter“ stellt fest, dass die Deutschen ja eigentlich die falsche Mannschaft seien, „um einen 4:0-Vorsprung herzugeben“. Die Neuers, Badstubers, Lahms und Schweinsteigers haben gestern fürwahr kräftig am deutschen Stereotyp gekratzt.
Deutscher Offensivdrang …
Dabei ist es diese Elf, die schon seit Jahren einen Weg geht, den man von deutschen Fußballern so gar nicht kannte. Getragen vom offensiv ausgerichteten Masterplan Jogi Löws besticht die Nationalelf durch spielerische Klasse und Eleganz. Sie setzt ihre Gegner regelmäßig unter Druck, versteht es oftmals dem Spiel ihren Stempel aufzudrücken, so wie gestern beispielhafte 60 Minuten lang. Widerstand wird nicht mit der Brechstange bekämpft, sondern mit rasantem Kombinationsfußball. Das Bild des Rumpelfußballers gehört seit einiger Zeit der Vergangenheit an. Doch all die schönen Offensivaktionen konterkariert das Team zunehmend mit einer anfälligen Defensive. Das zeigte das Halbfinale gegen Italien auf eklatante Weise und noch viel mehr das jetzt schon legendäre Spiel gegen Schweden. Auch das 4:2 im WM-Viertelfinale gegen Griechenland offenbarte, dass nach hinten gerne wenig diszipliniert und äußerst fahrig agiert wird. Das Team scheint sich an seinen Offensivqualitäten zu besaufen. Nüchternen Ergebnisfußball zeigt das DFB-Team nur selten, ganz offensichtlich, weil es ihn gar nicht mehr kann. Knappe Erfolge kommen nur mit einem ordentlichen Zitterfaktor zustande, wie das 2:1 bei der EURO gegen Dänemark oder das unverschämt glückliche 2:1 in Österreich.

Die Torbilanz der DFB-Elf von 2000 bis 2012. In diesem Jahr steuert das deutsche Nationalteam auf eine seit langem nicht mehr gesehene Negativquote bei den Gegentreffern zu.
… wird immer wieder zum Boomerang
Vor vier Jahren sprachen deutsche Medien noch von Schnarch und Schleich, wenn von der Innenverteidigung Per Mertesacker und Christoph Metzelder die Rede war. Heute spielen fußballerisch bestens geschulte und hoch gelobte Jungprofis wie Mats Hummels oder Holger Badstuber in der Defensivzentrale, aber sie kommen beim Vergleich mit ihren gescholtenen Vorgängern – zu denen auch Arne Friedrich gehört – zumindest auf dem Papier schlechter weg. Die Gegentrefferquote war in den vergangenen 13 Jahren nie schlechter (s. Tabelle). Ein besonders bedauernswertes Bild gab gestern Badstuber ab, der sich zweimal durch lange Bälle überraschen ließ, die prompt zu Gegentoren führten und beim dritten Treffer durch Johan Elmander getunnelt wurde.
Dem deutschen Team fehlt es offensichtlich an einer gewissen Portion Nüchternheit und Abgezocktheit. Ihr fällt es äußerst schwer innerhalb eines Spiels auf neue Spielsituationen einzugehen. Bei der EURO 2008 war sie noch in der Lage gewesen enge Spiele wie gegen Portugal oder die Türkei für sich zu erzwingen. Bei der WM 2010 war ihre defensive Ordnung gepaart mit überfallartigen Konterangriffen beispielhaft. Die niedrigste Gegentorquote der letzten Jahre und eine sehr ordentliche eigene Torausbeute von 2010 müssen der Maßstab für heute sein. Legten Löw und sein Vorgänger Jürgen Klinsmann ihr Hauptaugenmerk zunächst auf die Festigung der Defensive, so lag das Prä in den letzten Jahren auf der Offensive. Ein Sachverhalt, der Stärke, aber eben auch Schwäche zugleich ist.
Von der fehlenden Kunst des Reagierens
Die deutschen Nationalspieler zeigen beständig, dass sie in der Lage sind zu agieren. Clever zu reagieren, das verstehen sie momentan nicht. Dabei macht dies große Teams aus. Siehe Spanien, siehe Italien, siehe die immer wieder gleichen Topmannschaften in der Champions League. Absolut hilflos die gestrigen Versuche der DFB-Elf den ebenso abseh-, wie vermeidbaren Ausgleich zu verhindern. Zwischen der 84. und 92. Minute erhielten Marco Reus, Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger gelbe Karten wegen Ballwegschlagens und Spielverzögerung. Schweinsteiger hatte die Ausführung eines Freistoßes in der gegnerischen Spielhälfte verschleppt (das Thema Standardsituationen steht auf einem anderen Papier). Und als er ihn dann endlich ausführte, spielte er zurück zu Jerome Boateng und der zu Torwart Manuel Neuer, dessen Abschlag beim Gegner landete. Wir schrieben die 92. Minute. Eine Minute später hatte eine äußerst treffsichere schwedische Auswahl das Comeback der letzten Jahre geschafft.
Schweinsteiger sah die gelbe weil der den Freistoß ausführte obwohl der Ball vom Schiedsrichter gesperrt worden und noch nicht mit Pfiff freigegeben worden war.
Ansonsten sehr gut auf den Punkt gebracht.