So, höchste Zeit zurückzublicken. Seit dreieinhalb Wochen ist die Zweitligasaison 2014/15 Geschichte. Die Geschichte dieser Spielzeit schrieb unzweideutig der SV Darmstadt 98. Wahlweise als ‚krasser Außenseiter‘ oder ‚Absteiger Nummer 1‘ gewertet, biss sich das Team von Dirk Schuster von Beginn im oberen Tabellendrittel fest. Lediglich nach dem zweiten Spieltag rangierten die Lilien außerhalb der Top 6. Mickrige fünf Niederlagen sollten am Ende der Saison zu Buche stehen und … Platz 2! Ein selektiver Rückblick auf „Unser schönes Aufstiegsjahr“.
Der erste Sieg:
Sieg Nummer 1 nach 21 Jahren Zweitligaabstinenz sicherte Dominik Stroh-Engel mit einem verwandelten Handelfmeter am ersten Spieltag. Der SV Sandhausen hatte das Nachsehen und alle Lilienfans meinten, drei wichtige Punkte gegen den Abstieg und einen möglichen Abstiegskontrahenten gesammelt zu haben. Das Spiel war wenig überragend und ohne große Höhepunkte, aber das war den Stadionbesuchern herzlich egal. Genauso egal, hätte dem DFB eigentlich das Klopapier sein dürfen, das die Fans kurz nach Spielbeginn auf das Feld warfen. Doch dazu später mehr.
Der Schockmoment:
Folgte an Spieltag 2. Der unverwüstliche Kapitän Aytac Sulu ging tatsächlich K.o.! Außer Gefecht gesetzt vom eigenen Keeper Christian Mathenia. Beide waren beim Auswärtsspiel in Ingolstadt ineinander gerutscht. Mathenias Knie brach Captain Sulu diverse Knochen im Gesicht. Wie würde das Team den Ausfall verkraften? Gut! Benjamin Gorka erwies sich als verlässlicher Ersatz. Sulu scharrte dennoch mit den Hufen und kehrte – mit Maske – nach nur zwei Ligaspielen schon wieder zurück.
Die Elferlotterie:
Ach ja, im DFB-Pokal gegen Wolfsburg hatte der Kapitän ebenfalls gefehlt. Dem späteren Vizemeister und Pokalsieger boten die Lilien ordentlich Paroli. Zugegeben, die Wölfe waren zu Saisonbeginn noch nicht in der Form, die sie später auszeichnete, aber die Lilien ließen sich eben nicht im Vorbeigehen ausschalten. Der Erstligist musste gar im Elfmeterschießen das Glück bemühen. Die Lilien hatten sich darin den großen Favoriten schon zu Recht gelegt. Doch einen Elfer im Vorteil platzierte Maurice Exslager seinen zu schlecht. Ein suboptimaler Einstand für die Köln-Leihgabe, die am Bölle nie so richtig warm werden sollte. Als in der Verlängerung des Shootouts Milan Ivana verschoss, war die mögliche Sensation dahin.
Die magischen Nächte:
Was waren das für Flutlichtspiele am Böllenfalltor in der zurückliegenden Saison? Angefangen beim Derby im Spätsommer gegen den FSV Frankfurt, der mit 4:0 nach Hause geschickt wurde. Ende Oktober gastierte dann der große Club in Darmstadt. Da die Partie auf einen Montagabend fiel, konnte ganz Deutschland live im Free-TV erleben, wie es am Bölle zugeht. Die Franken mögen spielerisch leichtfüßiger, in ihren Aktionen bisweilen schneller gewesen sein, letztlich blieben sie ohne Punktgewinn: 3:0 für den SVD. Im neuen Jahr ging es geradewegs so weiter. Das Last-Minute-Tor von Jan Rosenthal gegen Eintracht Braunschweig machte deutlich, hier will ein Team die Gunst der Stunde nutzen und oben dran bleiben. Fast schon zum Selbstläufer entwickelte sich das 5:0 an einem Freitagabend gegen Union Berlin: „Gegen Darmstadt kann man mal verlieren!“, sangen die Fans im Verlauf der 2. Halbzeit. Eine Lektion, die zwölf der 17 Kontrahenten lernen mussten. Nur Ingolstadt, Düsseldorf, Heidenheim, 1860 München und Greuther Fürth verloren nicht gegen die Lilien. Von ihnen gewannen aber auch nur Düsseldorf und Fürth gegen die 98er.
Die frechste Aktion:
Anpfiff zur 2. Halbzeit im Heimspiel gegen den 1. FC Nürnberg. Und was macht Jerôme Gondorf? Zieht einfach mal vom Anstoßkreis frech ab. Der Ball fliegt und fliegt, senkt sich ideal und wäre wohl direkt unter der Latte eingeschlagen, wenn nicht Nürnbergs Torwart den Ball im Hechtsprung zur Ecke gekratzt hätte.
Das rote Spiel:
Erstmals beteiligte sich vor dem Spiel gegen Leipzig das gesamte Stadion an einer „Choreographie“. Das Bölle leuchtete in ungewohntem Rot, als die Zuschauer zigtausend rote Karten in die Höhe hielten und damit den Gast aus Leipzig (nicht) willkommen zu heißen. Die Fans spendeten rund um das Spiel übrigens fleißig, da der DFB die Lilien zu einer Geldstrafe verdonnert hatte. Warum? Das eingangs erwähnte Werfen der Toilettenpapierrollen gegen Sandhausen als Protest gegen RB Leipzig. Begründung: Unsportliches Verhalten durch die provozierte Spielunterbrechung. Aha. Aufgrund der Spendenaktion hatte der Klub keinen Schaden und die Fans wurden durch den Sieg auf dem grünen Rasen mehr als entschädigt.
Die Schwäche für Torhüter:
Es begann ja schon in der letzten Spielminute der Saison 2013/14. Gerade hatte Elton da Costa die Lilien im Relegationsrückspiel auf der Bielefelder Alm ins Glück geschossen, da endete ein letzter Bielefelder Angriff am Pfosten des Darmstädter Tores. Ein Freistoß war vom mit nach vorne geeilten Bielefelder Torwart Stefan Ortega auf Arne Feick verlängert worden, der ihn ans Aluminium köpfte. Hatte also schon damals der gegnerische Torwart im Lilien-Strafraum für Verwirrung gesorgt, so wiederholte sich dies in der Zweitligasaison sogar zweimal.
In Bochum gewann in der Nachspielzeit Andreas Luthe, seines Zeichens Keeper des Revierklubs, ein Kopfballduell im Strafraum der Lilien, woraufhin Mikael Forssell zum 1:1 abstaubte. In der Rückrunde sicherte sich Fabio Coltorti einen Platz in den Geschichtsbüchern. Der Torwart von RB Leipzig erzielte in der Nachspielzeit den Siegtreffer für die Hausherren gegen ungewohnt schlafmützige Lilien. Ein Eckball segelte in den Strafraum, Dominik Stroh-Engel ging kurzzeitig mit seinen Gedanken Gassi und ließ Coltorti ziehen, der anschließend mit einem weiteren Leipziger Spieler mutterseelenallein am Fünfmeterraum auf den Bus warten konnte … oder halt auf den Ball. Als er diesen erhielt, hatte er die Zeit diesen anzunehmen, sich zu drehen und formvollendet abzuschließen. Damit war die 1:2-Niederlage besiegelt und vier Spieltage vor Schluss das Momentum nicht mehr auf der Seite der Lilien. Sie waren aus den Top3 der Tabelle gerutscht, sollten aber starke Comeback-Qualitäten zeigen, während Leipzig die Gunst der Stunde verpuffen ließ.
Der erste Auswärtssieg:
Sollte erst am 17. Spieltag auf St. Pauli gelingen. Ein 1:0 kurz vor Schluss durch Fabian Holland zeigte den Spielern, dass sie mehr können, als auswärts lediglich einen Punkt mitzunehmen. Die mitgereisten Fans waren aus dem Häuschen und das nicht nur aufgrund ihrer erstmals initiierten Schaalalalala-Wechselgesänge. Die Lilien hatten Blut geleckt und holten nur drei Tage später an einem nasskalten Mittwochabend in Sandhausen den nächsten Dreier. Erneut kurz vor Schluss, dieses Mal durch Hanno Behrens. An diesem Abend merkten die Lilien-Fans erstmals, dass Dirk Schuster tatsächlich mehr als nur den Klassenerhalt anstrebte. Als die zuvor vergleichsweise harmlosen Gastgeber ausgeglichen hatten, warf er nach 69 Minuten Ronny König für Milan Ivana ins Rennen. Damit standen mit Stroh-Engel und König zwei reine Mittelstürmer auf dem Feld. Eine klare Ansage in Sandhausen mehr als nur einen Zähler mitzunehmen. Letztlich erfolgreich.
Die skurrilste Situation:
19. Spieltag, Darmstadt gegen Ingolstadt, Nachspielzeit am Bölle: Gästekeeper Ramazan Özcan hat den Ball. Und er wird ihn zwei Minuten lang nicht mehr hergeben. Die Lilien erwarten seinen Abschlag auf der Höhe der Mittellinie. Doch Özcan denkt nicht daran den Ball ins Spiel zu bringen. Er führt den Ball von einem Ende des Strafraums zum anderen. Läuft weiter durch den Torraum und lässt die Uhr runter laufen. Die Zuschauer und die Spieler der Lilien sind genervt, ob des regelkonformen, aber skurrilen Schauspiels, das eines souveränen Tabellenführers eigentlich nicht würdig ist. Im Grunde ist es aber eine große Wertschätzung, denn Ingolstadt hatte ganz offensichtlich großen Respekt vor den Lilien.
Die Reisegruppen:
5.000 Fans in Kaiserslautern, 3.000 in München, 6.000 in Frankfurt, 5.000 in Fürth, die Auswärtskarten für St. Pauli binnen weniger Stunden ausverkauft. Die 98er sorgten dieses Jahr für ordentlich Reiseverkehr auf der Schiene und den Autobahnen. Die Lilien sind wieder wer und die Fans ziehen mit. Es ist schön zu sehen, wie Fanschals aus Autos wehen, die die Lilie auf der Heckklappe tragen.
Dieser Dorscht …:
So lautete die Aussage der Choreo vor dem Spiel gegen den 1. FC Kaiserslautern. Die Lilienfans spielten damit auf den Datterich an, ein Darmstädter Schauspiel aus dem 19. Jahrhundert. Zugleich stand die Aussage sinnbildlich für die Gier nach dem möglichen Bundesligaaufstieg. Die Mannschaft verstand die Parole und schickte die Lauterer mit 3:2 nach Hause. Weitere Choreos sorgten in dieser Saison für Highlights am Bölle. Sei es die Erinnerungs-Choreo vor dem Nürnberg-Spiel, in dem an das legendäre 7:0 von 1973 angespielt wurde. Sei es die Choreo, bei der vor dem Spiel gegen Union Berlin Sehenswürdigkeiten aus Darmstadt über die gesamte Haupttribüne angezeigt wurden.
Die Verabschiedung:
Kontrovers diskutiert wurde unter den Fans, ob sie ihr Team zum Auswärtsspiel nach Leipzig begleiten sollen. Das Ergebnis: Nein. Als Kompensation verabschiedeten 600 Fans die Mannschaft vor ihrer Abreise stimmungsvoll aus dem Block 1898 heraus. Die Partie verfolgten die Daheimgebliebenen in einer der zahlreichen Darmstädter Kneipen.
Das Sonderlob:
Gerne übersehen wird das Team hinter dem Team. Was aber der Fitnesstrainer, die Physios und das Ärzteteam in Darmstadt fabrizieren, kann nicht hoch genug bewertet werden. Ob es wirklich an den Kohlehydrat-Gels, der Eiweißzufuhr nach den Spielen oder den Kompressionsstrümpfen liegt, sei dahingestellt. Fakt ist: Wie bereits im letzten Jahr hatten die Lilien kaum Verletzte zu beklagen. Schon gar keine Langzeitverletzten. Einzig Tobias Kempes Schambeinentzündung und Jan Rosenthals regelmäßigen muskulären Probleme sind in der vergangenen Spielzeit erwähnenswert. Bleibt zu hoffen, dass die Betreuung der Spieler in der Eliteklasse weiterhin so geräuschlos und erfolgreich verläuft.
Die größte Einzelleistung:
Na was wird die wohl gewesen sein? Marcel Hellers Sololauf von Karlsruhe! Im Anschluss an eine Ecke für den KSC nahm Heller den Ball in der eigenen Hälfte auf, nahm an Fahrt auf, überlief den zunehmend bemitleidenswerten Hiroki Yamada, wollte einfach nicht langsamer werden und legte den Ball dann auch noch mustergültig für den mitlaufenden Tobias Kempe auf, der keine Mühe hatte die Kugel zum 1:0 im Tor unterzubringen. Ein vorentscheidender Sieg beim späteren Tabellendritten. Decubitus, die bereits für „Allez les bleus“ verantwortlich zeichneten, spielten im Frühjahr „Heller ist schneller“ ein. Selten gab es ein Fußballlied, das den Inhalt besser auf den Punkt gebracht hat:
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Und dann war da …
… noch einmal Tobias Kempe als Torschütze. Am 24. Mai legte er sich in der 71. Spielminute den Ball zurecht. Der Rest ist Geschichte:
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