Aytac Sulu freut sich auf das Nachbarschaftsduell gegen die Eintracht aus Frankfurt. Das hat er direkt nach der 1:6-Klatsche gegen den 1. FC Köln gesagt. Warum? Weil Derbys immer ihre eigenen Gesetze hätten. Okay, da mag ein wenig mehr Trotz denn Überzeugung mitschwingen, denn schließlich hatte sich das Lilien-Kollektiv bei der Niederlage gegen Köln reichlich konfus präsentiert. Entscheidend wird sein, dass der SVD (möglichst lange) kein Gegentor kassiert. Und sollte es bis in die Nachspielzeit 0:0 stehen, dann darf Sandro Sirigu gerne wieder auf der rechten Außenbahn einen Ausflug an den gegnerischen Sechszehner wagen.
So sieht’s aus:
Sportlich mau, personell interessant. Das 1:6 gegen Köln zeigte überdeutlich, dass die Lilien in dieser Verfassung rein gar nichts in der Bundesliga zu suchen haben. Die Gegentore fielen ohne große Gegenwehr. Vor allem das 0:2 ließ einen sprachlos zurück. Ausgangspunkt Kocka Rausch, Vorlagengeber Leonardo Bittencourt und Vollstrecker Yuya Osako verfügten über so viel Freiraum, wie sonst nur Passanten in einer Fußgängerzone am Neujahrsmorgen. Dachte man zuletzt, dass es am Offensivspiel krankt, so kamen die Auflösungserscheinungen im Defensivverhalten unerwartet. Darmstadts Mittelfeld konnte – wie schon bei den letzten beiden Vergleichen gegen den Effzeh – keinen Druck auf die Passgeber ausüben, sondern lief hinterher. Weiter hinten sah es nicht besser aus. Das Spiel der Kölner war für die Viererkette immer wieder zu schnell.
Und dabei schickten die Lilien eigentlich ein vielversprechendes Aufgebot ins Rennen. Vor der bis auf Sandro Sirigu identischen Viererkette aus dem Gladbach-Spiel sollten Jerome Gondorf und Peter Niemeyer aufräumen und Akzente nach vorne setzen. Die schnellen Marcel Heller und Neuzugang Sidney Sam auf den Außen sollten das Angriffsspiel prägen und in der Spitze versprach ein weiterer Neuer – Terrence Boyd – mehr Präsenz im Sturmzentrum. Doch wer in die Gesichter von Sam oder Boyd schaute, der sah irritierte Debütanten, die nicht ganz verstanden, wie ein Team nach passablen 30 Minuten derart einbrechen konnte. Gar nicht erst in den Kader geschafft hatten es Rekordeinkauf Roman Bezjak und Sven Schipplock, immerhin der erfahrenste Stürmer im Lilien-Kader. Es bleibt fraglich, ob sie zukünftig noch eine große Rolle spielen werden. Felix Platte und Immanuel Höhn fehlten ebenfalls, sie benötigen nach ihren langen Verletzungen aber wohl noch etwas Anlaufzeit.
Tja, was tun in dieser prekären Situation? Neue Spieler verpflichten! Das Unternehmen Klassenerhalt unterstützen seit Dienstag der Deutsch-Kongolese Wilson Kamavuaka, der junge Däne Patrick Banggaard und – surprise, surprise – Hamit Altintop. Alle gelten als Defensivspezialisten, wobei auf den ein oder anderen Distanzschuss von Altintop zu hoffen ist. Ansonsten dürfte es Sam und Boyd vorbehalten sein, dem arg harmlosen Offensivspiel ein wenig Leben einzuhauchen. Mit Altintop läuft jedenfalls erstmals ein Ex-Spieler von Bayern München und Real Madrid mit der Lilie auf der Brust auf. Seinen Zenit hat der 34-jährige freilich schon überschritten, zudem war er lange verletzt. Dennoch sollte er mit seiner Erfahrung und Präsenz ein Fixpunkt im Lilienspiel werden können. Sein Auftritt in Frankfurt dürfte ein erster Fingerzeig sein.
Verlassen hat die 98er nach reichlich (medialem) Getöse leider der ebenso zuverlässige wie vielseitige Flo Jungwirth. Ihn zieht es in die Major League Soccer. Zudem haben die Lilien den Vertrag mit Victor Obinna aufgelöst, während Änis Ben-Hatira fortan in der Türkei spielt.
Wie so oft schufen die Lilien am Tag nach der Aufnahme unseres jüngsten Lilien-Podcasts „Hoch & weit“ Fakten, indem sie erst am Dienstag das Personalkarussell anwarfen. Dennoch lohnt sich das Reinhören in unsere leicht deprimierte Runde. (LINK)
Der Kontrahent hat das Wort:
Christian ist Fan der SGE und hat bereits ein Buch über Eintracht-Aufnäher herausgegeben sowie Spieltagsplakate für das Eintracht-Museum gestaltet. Mit seinem „Büro für Erinnerungskultur“ (LINK) bereitet er derzeit in Kooperation mit dem Eintracht-Museum die Ausstellung und Dokumentation „Warum gehen die Leute zum Fußball?“ vor.
Christian, bevor wir zum Sportlichen kommen, worum geht es bei eurem jüngsten Projekt genau und wann werden die Fans die Ergebnisse sehen können?
Wer mit Leidenschaft zum Fußball geht und sein Herz an einen Verein verschenkt hat, hat sich diese Frage bestimmt schon mal gestellt: Warum mache ich das eigentlich? Egal ob nach enttäuschenden Auswärtsfahrten oder unnötigen Heimniederlagen, nach verpassten Geburtstagen oder geklauten Meisterschaften. Grob gesagt fragen wir in unserem Projekt Menschen, warum sie tun, was sie tun – Fans, die heute zum Fußball gehen und solche, die früher schon Spiele verfolgt haben. Wir wollen herausfinden, warum der Fußball und seine Vereine für so viele Menschen Projektionsfläche ist – und was da überhaupt projiziert wird.
Du kennst das sicher: In der Diskussion um den Fußball und „seine Fans“ wird oft und viel verallgemeinert – vor allem in Bezug auf Probleme. Die Masse der Menschen, die sich in Deutschland mit einem Verein identifiziert, ist eben für Vereine, Medien und Gesellschaft schlichtweg nicht zu fassen. Lass mal in einer Diskussion am Arbeitsplatz, in der Kneipe oder beim Familientreffen das Wort „Pyrotechnik“ fallen… Die Gründe, die Menschen zu Fans machen, sind einfach zu unterschiedlich und Fantum wird auch verschieden intensiv gelebt. Diskussionen über „die Fans“ und der Umgang mit ihnen – von der Betreuung bis zur Bestrafung – bleiben deshalb schwierig. Auch die Eintracht kennt diese Problematik.
Neben Akteuren aus der aktuellen Fanszene interviewen wir auch alte Anhänger, um den Wandel in der Fankultur abzufragen. Wir recherchieren historisches Quellenmaterial und werten es aus: Chroniken, Fanzines, historische Filmaufnahmen, Presseberichte etc. Die Ergebnisse sollen Ende des Jahres in einer Ausstellung präsentiert werden. Außerdem legen wir ein Archiv aus persönlichen Erinnerungen von Fußballfans an, das auch zu weiteren Fragestellungen im Bereich der Fußball(fan)kultur Antworten liefern kann – auch über die Eintracht hinaus.
Dann kommen wir zur aktuellen Bundesligaspielzeit. Du gehst seit Ewigkeiten zur Eintracht. Wie ordnest Du die Spielzeit 2016/17 ein?
Bislang ist das natürlich eine große Freude. Weniger ob der guten und so wohl von niemand erwarteten Platzierung, mehr noch wegen der Art und Weise, wie die Eintracht sich auf dem Platz präsentiert: leidenschaftlicher Einsatz und ein hohes Maß an taktischer Flexibilität. Es hat lange nicht so viel Spaß gemacht. Aber um die Spielzeit wirklich zu bewerten ist es noch zu früh. Da sind wir in Frankfurt ja gebrannte Kinder…
Dennoch, warum läuft es in dieser Saison so viel besser als in der letzten?
K-O-V-A-C. Es ist wirklich mehr als bemerkenswert, was er aus der Mannschaft herausholt. Er hat einige Spieler deutlich besser gemacht, im Sommer für ein paar wichtige Änderungen im Kader gesorgt und vor allem sind seine Spielvorbereitung und seine taktische Offenheit ein Segen. Gerade nach Veh und Schaaf ist das eine wahre Wohltat.
Welche Spieler stechen aus der aktuellen Mannschaft heraus?
Mich begeistert vor allem Jesus Vallejo. Auch wenn ihm gegen Ende der Hinrunde etwas die Puste ausgegangen ist – der ist der Wahnsinn. Schnell, stark im Zweikampf, eine Ruhe am Ball – und er ist 1997 geboren! Das ist so ein Spieler, bei dem Du nach wenigen Spielen denkst: „Was macht der denn hier? Der ist ja viel zu gut für uns…!“ (lacht) Er ist ja von Real Madrid ausgeliehen, mal sehen, wie lange wir an ihm noch Freude haben. Aber auch wenn er nicht gleich in diesem Sommer Nachfolger von Pepe wird – den werden wir nur noch im Fernsehen sehen.
Ein echter Sympathieträger ist Lukas Hradecky, es macht Spaß, den in der Mannschaft zu haben. Auch Hasebe, Fabián und Huszti gefallen mir sehr gut. Die letzten beiden fallen aber im Moment leider aus, wobei Huszti sogar auf dem Sprung zu einem chinesischen Klub sein soll. Das fände ich schade.
Fredi Bobic wurde als neuer Sportvorstand vor der Saison nicht unbedingt mit offenen Armen begrüßt. Welchen Anteil schreibst Du ihm an der momentanen Entwicklung zu?
Schwer zu sagen. Seine Neuverpflichtungen funktionieren gut, ich bin persönlich auch nicht unbedingt gegen Leihgeschäfte. Bisher lässt es sich gut an. Ich bin ja schon immer froh, wenn sich die Entscheidungsträger meines Vereins nicht mit allzu doofen Äußerungen aus dem Fenster lehnen. Bobic hat in den ersten Monaten angenehm zurückhaltend agiert. Außerdem scheint er ein gutes Gespür dafür zu haben, was die Leute nach der Bruchhagen-Ära hören wollen, ohne dabei Bruchhagen zu diskreditieren. Genau das würde ich ihm auch sehr übel nehmen. Bruchhagen wird ja gerne auf seine angeblich wenig-visionäre Art reduziert. Dabei hat er den Verein in vielerlei Hinsicht stabilisiert. Wie Bobic damit umgeht, daran wird er sich messen lassen müssen.
Wie ist die Stimmung unter den Fans? Gedanklich schon auf Europareise oder angesichts des Beinaheabstiegs demütig?
Bei mir persönlich dankbar und ungläubig. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie ich mich gefühlt habe, als sich Sandro Wagner Ende April den Ball zum Elfmeter zum möglichen 2:0 für Euch hingelegt hat… Wir sind mit viel Glück drin geblieben, und den emotionalen Stress zweier Relegationsspiele wünsche ich niemandem.
Man muss aber auch sagen, dass es in der Liga eng zugeht. Wenn man mal das Glück hat, ein paar knappe Spiele für sich zu entscheiden, ist ein Europapokal-Platz nicht völlig unerreichbar. Das gilt ja nicht nur für die Eintracht. Und wie heiß die Frankfurter Fanszene darauf ist, hat man vor ein paar Jahren gesehen. Ein halbleeres Stadion in der Gruppenphase der Europa League wie in Mainz gäbe es hier wahrscheinlich nicht.
Letzte Saison geriet die Frankfurter Fanszene in Streit darüber, ob man den Lilien wohlwollend oder feindselig begegnen sollte. Wie sieht es in dieser Saison aus? Kochen die Emotionen immer noch hoch?
Eine einheitliche Haltung gibt es natürlich nicht. Für manche ist es ein Derby mit allem Drum und Dran, für viele ist es das nicht. Die siehst Du aber nicht im Fernsehen auf dem Zaun, die sprayen keine Beleidigungen und die stimmen auch keine Gesänge wie „Schön, dass Ihr da seid, aber wir wollen trotzdem gewinnen!“ an… (lacht)
Ich hoffe nicht, dass es wieder so eskaliert wie letzte Saison. Das hatte auch viel damit zu tun, dass die Mannschaften in direkter Konkurrenz zueinander standen, das ist ja nun (aus Eintracht-Sicht: zum Glück) nicht so.
Ich würde mir in Bezug auf die Lilien eine größere Gelassenheit wünschen, schon alleine deshalb, weil ich in der Nähe von Darmstadt wohne und ich früher oft bei Spielen in der Regional- und Oberliga im Stadion war. Aber Gelassenheit leisten sich Fans meist nur bei Siegen. Und die letzten beiden Partien mit Zuschauern gingen nun mal an Euch.
Wie sehr ärgert dich das verlorene Hinspiel? Ohne die Niederlage hätte die SGE schon sechs Punkte Vorsprung auf Platz sieben.
Mich ärgert jede Niederlage. Auch wenn gerade diese besonders doof war. Ich denke aber, dass Pech, das wir bei Sirigus Flanke hatten, hat sich in anderen Partien der Hinrunde, z.B. gegen Leverkusen, ausgeglichen.
Wie bewertest Du die aktuelle Spielzeit der Lilien?
Man sieht diese Saison, was es für ein Meisterwerk von Dirk Schuster war, diese Leistung über mehrere Jahre aus dem Verein herauszuholen. Für die Lilien muss in der ersten Liga alles passen – vom Trainer über die Stimmung bis zu einem verlässlichen Knipser. Dass das nicht selbstverständlich ist, zeigt sich umso mehr, wenn man sieht, wie es für Schuster in Augsburg gelaufen ist.
Ich bin sehr gespannt, was Frings innerhalb der Mannschaft bewegen kann. Vielleicht kann Boyd ja die Wagner-Lücke füllen. Und Altintop dürfte auch eine echte Verstärkung sein. Trotz der bisher dürftigen Leistung sind es nur sieben Punkte bis zu einem Nichtabstiegsplatz und es sind noch 16 Spieltage. Es fehlt vielleicht einfach ein Erfolgserlebnis, ein Hoppla-es-geht-doch. Aber bitte nicht am Sonntag!
Nach dem bisherigen Saisonverlauf – und erst recht nach dem vergangenen Spieltag – geht die Eintracht als haushoher Favorit ins Hessen-Duell. Zudem ist die SGE zuhause bärenstark und noch ungeschlagen, obwohl sie primär gegen Topteams spielte. Der SVD holte auswärts noch rein gar nichts. Was muss passieren, damit die Lilien punkten?
Teams, die mitspielen wollen, liegen der Eintracht eher. In der Rückrunde kommen die letzten sieben der aktuellen Tabelle nach Frankfurt. Ich bin gespannt, wie Kovac das löst. Es gibt ja diese Statistik, dass kein Team in der ersten Liga mehr Niederlagen gegen den Tabellenletzten vorzuweisen hat, als die Eintracht. Natürlich, da hast Du recht: Wir sind diesmal der Favorit. Ihr habt allerdings Sirigu…
Besten Dank, Christian.
An diesem Wochenende vor vier Jahren:
Wollten 4.100 Zuschauer am Böllenfalltor das Debüt von Lilien-Coach Dirk Schuster miterleben. Gegen Wacker Burghausen blieb es letztlich – trotz verstärkter Angriffsbemühungen in Halbzeit 2 – bei einem torlosen Remis. Die Lilien verharrten somit weiterhin auf Platz 20 in der 3. Liga. Die beste Gelegenheit des Spiels hatte Neuzugang Aytac Sulu, dessen Kopfball Wacker-Schlussmann René Vollath noch an die Latte lenken konnten. Dirk Schuster blieb somit nach Spielschluss folgendes Resümee: „Die Mannschaft hat viel investiert und konnte sich am Ende leider nur mit einem Punkt belohnen. Das Auftreten war absolut in Ordnung. Auf diese Leistung können wir aufbauen.“
Die Lilien-Mannschaft beim 0:0 gegen Wacker Burghausen:
Zimmermann (C) – Hickl, Sulu, Gorka, Stegmayer – Latza, Baier, Hesse, Zielinsky (63. Da Costa), Zimmerman – Borg (81. Steegmann)
Zuschauer: 4.100
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