Der Leistungsträger ist das Team

gettyimages_LilienWie schön ist es derzeit doch, es mit den Lilien zu halten. Die Blau-Weißen haben eine erste Halbserie zum Verlieben gespielt. 35 Punkte aus 18 Partien stehen auf der Habenseite. Ein Torverhältnis von Plus 21 unterstreicht den formidablen Lauf der 98er. Entspannter verabschiedete man sich am Bölle schon ewig nicht mehr in die Winterpause.

Erinnern wir uns mal ein Jahr zurück. In die kurze Weihnachtspause 20/21 gingen die Lilien mit drei Siegen am Stück. Einem so nicht erwartbaren 4:0 beim Spitzenteam aus Fürth folgten ein 2:0-Pflichtsieg gegen das Schlusslicht aus Würzburg und ein souveräner 3:0-Pokalerfolg bei Dynamo Dresden. Endlich schienen die Rädchen ineinanderzugreifen. Wunschlösung Markus Anfang war mit seinem Team bis dahin weit hinter den Erwartungen geblieben. Zu oft fehlte die Balance im Spiel der 98er. Ärgerliche Punktverluste und Niederlagen pflasterten den Weg des SVD. Die Offensive war nicht zwingend, die Defensive viel zu anfällig. Doch das schien zu diesem Zeitpunkt kurz vor den Feiertagen Schnee von gestern zu sein. Aber: zu früh gefreut. Die ersten Partien 2021 verliefen genauso enttäuschend, wie die Mehrzahl der vorangegangenen. Die Lilien kamen einfach nicht in die Spur. Bis, ja bis Markus Anfang im März nicht mehr anders konnte, als die Zeichen der Zeit zu erkennen. Er ließ sein Team tiefer stehen, baute mit einer Doppelsechs endlich eine zusätzliche Absicherung ins Spiel ein und spielte schnörkelloser, vertikaler. Mit Erfolg. Eine letztlich starke Rückrunde katapultierte die Lilien noch an die Spitze der Mittelfeldteams, während sich Serdar Dursun mit 27 Kisten die Torjägerkanone schnappte.

Ein arbeitsamer Sommer
Zeit also, auf dieser Basis aufzubauen. Doch die Sterne standen nicht günstig. Dursun verließ den Klub erwartungsgemäß und darf inzwischen – es sei ihm gegönnt – die Früchte seiner Karriere in Istanbul ernten. Victor Pálsson hielt nur noch wenig am Bölle. Schalke mit Ex-Coach Dimitrios Grammozis rief und der Isländer war nur zu wechselwillig. Die Chemie zwischen ihm und Anfang, um sie war es wohl nicht sonderlich gut bestellt. Neben dem Torjäger war also der Emotional Leader weg … und plötzlich auch der Übungsleiter. Markus Anfang ging plötzlich nach Bremen und stibitzte den 98ern zudem Nicolai Rapp weg. Der SVD hätte ihn sicher gerne fest von Union Berlin verpflichtet, Anfang und Werder grätschten aber dazwischen. Alright: Torjäger weg, Trainer weg, Doppelsechs weg. Zudem mit Immanuel Höhn und Lars Lukas Mai zwei Innenverteidiger. Nichts war es mit dem nächsten Schritt. Im Juni galt es einen veritablen Umbau zu stemmen!

Ein schwieriger Start
Zunächst schloss der Klub die Trainerlücke mit Torsten Lieberknecht. Den Kader verstärkten in der Folge noch Außenspieler Benjamin Goller, Innenverteidiger Lasse Sobiech, Angreifer Luca Pfeiffer und die beiden Sechser Nemanja Celic sowie Klaus Gjasula. Bis Gjasula eingreifen konnte, war der Saisonstart allerdings schon in die Hose gegangen. Corona hatte zugeschlagen und den sich in der Findungsphase befindlichen Kader gleich mal ordentlich ausgedünnt. Die Mannschaft stellte sich von selbst auf. Die Resultate: 0:2 gegen Regensburg, 0:3 gegen Karlsruhe, Pokalaus bei 1860 München. WTF! Immerhin: Lieberknecht baute U19-Spieler Clemens Riedel ins Team ein und der Innenverteidiger löste die Aufgaben erstaunlich gut. Selbst nachdem wieder Alternativen verfügbar waren, blieb er verdientermaßen eine Weile erste Wahl. Mit Philipp Sonn kam gar ein damals 16-Jähriger zu seinen ersten Spielminuten in der 2. Bundesliga.

In der Spur
Um in einen Alarmmodus zu verfallen, war es ohnehin eindeutig zu früh. Lieberknecht lamentierte nicht. Er betonte, die Situation anzunehmen und das beste aus ihr zu machen. Das Team rückte zusammen und ist bis heute eine Gemeinschaft. Mit dem 6:1 am 3. Spieltag gegen Ingolstadt schlug das Pendel unmittelbar danach in die richtige Richtung aus. Klaus Gjasula ordnete wenige Tage nach seiner Verpflichtung erstmals das Defensivspiel der Lilien und vorne machten Philip Tietz und Luca Pfeiffer erstmals auf sich aufmerksam. Vier Monate später hat sich alles perfekt gefügt. Markus Anfang ist anderswo in Kalamitäten geraten, die den 98ern erspart geblieben sind. Den Weggang von Serdar Dursun kompensieren Tietz und Luca Pfeiffer im Doppelpack mit bereits 24 Toren. Gjasula macht Pálssons Weggang vergessen und in der Innenverteidigung stellen Thomas Isherwood und Patric Pfeiffer ein deutliches Upgrade zu all ihren Vorgängern dar. Der SVD schließt das Kalenderjahr 2021 auf Rang 2 der Zweitligatabelle ab. Wie kommt‘s?

Wie aus einem Guss
Nun: Auf dem Transfermarkt bewies der sportliche Leiter Carsten Wehlmann ein außerordentlich gutes Händchen. Auf dem Trainerstuhl erweist sich Lieberknecht als Glücksgriff. Auf dem Spielfeld steht eine homogene Truppe, die selbst kurzfristige Ausfälle regelmäßig ohne Substanzverlust auffängt. So wie heute in Regensburg, als mit Gjasula, Mathias Honsak und Luca Pfeifer drei Dauerbrenner fehlten. Für sie sprangen Celic, Karic und Aaron Seydel in die Bresche. Es gibt so viele Leistungsträger, dass man nur zu dem Schluss kommen kann: Der Leistungsträger sind nicht ein paar wenige, sondern das Team an sich. Vorne überzeugen die treffsicheren Angreifer. Über außen machen schnelle Spieler Alarm. Die Doppelsechs übernehmen auch mal eher spielstarke und nach vorne orientierte Akteure wie Tobi Kempe und Fabian Schnellhardt. Alternativ rückt Außenverteidiger Fabi Holland immer wieder auf die Sechs. Und hinten sind die noch jungen Patric Pfeiffer und Isherwood ein Bollwerk, hinter dem Marcel Schuhen eine weitere Stütze ist.

Die Erfolgsfaktoren
Die Basis des Erfolgs bilden folglich Kaderplaner Wehlmann und das Trainerteam. Zu ihm zählen der aus dem Krankenstand zurückgekehrte Torwarttrainer Dimo Wache, Co-Trainer Ovid Hajou und natürlich Chefcoach Lieberknecht. Dabei setzen die Lilien offenbar zurecht auf ein – wie man hört – datenbasiertes Scouting. Die Tage, in denen das Notizbuch eines Holger Fach die Richtung vorgab, sind jedenfalls längst Vergangenheit. Zudem hat Lieberknecht sofort den richtigen Ton gesetzt. Ich hatte Ende Juni die Gelegenheit ein längeres Interview für ein anderes Medium mit ihm zu führen. Er nahm sich mehr Zeit als vereinbart. Er präsentierte sich nahbar, authentisch, gewinnend. Er begegnete einem auf Augenhöhe. Er wirkte offen und ehrlich. Man traute ihm vom Fleck weg zu, einen Zugang zu den Spielern zu bekommen; Typ Menschenfänger. Zudem weiß er, auf was er sich bei den Lilien eingelassen hat: ihm muss man nicht erzählen, wo der Klub herkommt, er wusste es. Er zieht seine Energie aus einem Klub mit reichlich Historie und gewachsener sowie treuer Fanbasis in Südhessen. Deshalb wurde er damals auch nicht müde zu betonen, wie wichtig ihm, den Spielern und dem Klub der enge Schulterschluss mit den Fans sei. Dann könne etwas nachhaltiges entstehen.

Die Realität selbst gestaltet
Es war unverkennbar, hier saß jemand, der sich mit Haut und Haaren seiner neuen Aufgabe verschreibt. Einer Aufgabe, die er nicht als Sprungbrett nach Bremen oder sonst wohin versteht. Wie man überhaupt im Gespräch merkte, dass hier jemand anders agieren will als Markus Anfang zuvor. Er stellte die Saisonvorbereitung kurzerhand nach seinen Vorstellungen um. Er sagte, dass er nach vorne orientierten Fußball spielen lassen wolle, er aber auch einen langen Ball in die Spitze geil finden könne. Er sei zudem ein Trainer, der Spieler gerne mal unorthodox aufstelle (was man an Fabi Holland exemplarisch sieht) und der fragte, warum man denn in Darmstadt nicht auch eine gute Vorrunde spielen könne. Wohlgemerkt, zu einem Zeitpunkt, als der Kader wichtige Säulen verloren hatte, noch alles andere als komplett und die Vorbereitung schon in vollem Gang war. Damals dachte ich noch, okay, die Realität wird ihn schon noch einholen. Nun, er hat die Realität mit seinem Team selbst gestaltet. Bislang hervorragend. Gab es zu diesem Zeitpunkt der letzten Saison erst einen Statementsieg mit dem 4:0 in Fürth, so kommt man diese Saison schon gar nicht mehr mit dem Zählen hinterher. 6:1 gegen Sandhausen und Ingolstadt [Hier hatte ich zuerst Fürth vermerkt. War mit dem Kopf wohl schon eine Liga höher 😉 ], 4:0 gegen St. Pauli und Hannover, 3:0 gegen Bremen, 4:2 auf Schalke.

Wohlfühldaten wohin man blickt
Kein Wunder, dass diverse Spieler vom kicker weit vorne benotet werden und regelmäßig in der Elf des Spieltags stehen. Kein Wunder, dass sich der Marktwert vieler Spieler nach oben entwickelte. Kein Wunder, dass der SVD im Kalenderjahr 2021 satte 68 Punkte einfuhr. Die zweitmeisten nach St. Pauli. Kein Wunder, dass kein Team mehr Tore schoss als die Lilien und in der Defensive dennoch erstaunlich unanfällig agiert. Und so ist es auch kein Wunder, dass die Lilien in der ewigen Zweitligatabelle inzwischen mit dem SC Freiburg gleichzogen und in Kürze die Stuttgarter Kickers überholen, was gleichbedeutend mit dem Vorrücken an Position 7 ist. Das sind alles Zahlen, die verdeutlichen, wie gut es derzeit um die Lilien bestellt ist. Sowohl auf dem Platz als auch hinter den Kulissen und mit einem Gestalt annehmenden, neuen Böllenfalltor. Der Boden ist bereitet für eine spannende Rückrunde, so Corona es in geordneten Bahnen zulässt.

Doch Lieberknecht sagte in meinem mit ihm Interview auch, dass er mit Braunschweig oftmals dran an den Aufstiegsplätzen gewesen sei und es am Schluss meistens doch nicht gereicht habe. Nun, auch das würde man am Bölle verschmerzen. Aber lassen wir uns doch einfach überraschen. Alles kann, nichts muss!

Frohes Fest und guten Rutsch!