Deutschland vs. Italien: Die „italienische“ EURO

Eine Entscheidung im walisischen Cardiff versetzte am 18. April 2007 den italienischen Fußball in eine Art Schockstarre. Schuld daran waren die Delegierten des UEFA-Kongresses, die über die Vergabe der Europameisterschaft im Jahr 2012 zu entscheiden hatten. Italien galt als favorisiert, doch UEFA-Präsident Michel Platini zog die Karte mit den Namen „Poland & Ukraine“ aus dem Briefumschlag. Die Italiener verloren also die sicher geglaubte Europameisterschaft an zwei osteuropäischen Außenseiter. Seit nunmehr drei Wochen findet die EURO dort statt und nähert sich mit dem zweiten Halbfinale ihrem Ende. In diesem trifft heute Abend Deutschland ausgerechnet auf Italien.

Die italienische Presse reagierte im Anschluss an die verlorene Abstimmung fassungslos. Tuttosport äzte: „Ein altes Moskwitsch-Modell sowjetischer Produktion hat das Rennen gegen einen Ferrari gewonnen“. La Stampa lästerte: „Italien hat sich des Auftrags für die EM von Polen und der Ukraine berauben lassen, einer Allianz armer Länder, ohne Fußballtradition, ohne beachtenswerte Stadien und ohne asphaltierten Straßen, um sie zu erreichen.“ Manche Kommentare machten die Ursachen für die Niederlage jedoch im eigenen Land aus. So schrieb die Gazzetta dello Sport „Italien erlebt eine Krise, die mit kaltem Realismus auch im Ausland beobachtet wird. Es geht um eine Krise der Werte und der Glaubwürdigkeit.“ Und die Frankfurter Allgemeine brachte schließlich Licht ins Dunkel: „Der Skandal rund um eine Reihe manipulierter Spiele in der Serie A sowie die jüngsten Gewaltorgien, voran in Catania, wo der Polizist Filippo Raciti zu Tode kam, warfen zu lange Schatten auf Italiens Bewerbung um eine neue Chance zum Wiederaufbau zu bekommen.“

Damals wie heute: Skandale und Gewalt
Italien blieb also ohne EURO und was die Frankfurter Allgemeine in jenem April angedeutet hatte, bewahrheitet sich fünf Jahre später. Die „Chance zum Wiederaufbau“ ist nicht mehr wieder gekommen, weshalb der italienische Fußball immer noch unter den gleichen Krankheitssymptomen leidet. Die Gewalt in den Stadien ist immer noch präsent. Im April 2012 erzwangen die Fans des damals abstiegsbedrohten FC Genau eine Spielunterbrechung und forderten die Spieler ihres Vereins erfolgreich auf, sich ihrer Trikots zu entledigen, da sie es nicht wert seien es zu tragen. Pünktlich zur EURO erschütterte ein neuerlicher Wettskandal das Land und gipfelte sogar in der Nichtberücksichtigung von Nationalspieler Domenico Criscito, der in die illegalen Vorgänge involviert gewesen sein soll. Die vergeigte EURO-Kandidatur von 2007 schlägt sich noch heute im Zustand der italienischen Stadien nieder. Die seit über 20 Jahren nicht mehr modernisierten Arenen bieten wenig Komfort, um neue, bzw. verloren gegangene Zuschauer zu gewinnen. Das Verhältnis zwischen Staat und Fans ist seit vielen Jahren von gegenseitigem Misstrauen geprägt. Durch die EURO wäre die Politik gezwungen worden ihre Haltung gegenüber dem Fußball zu überdenken. Der Leiter der Koordinationsstelle Fanprojekte, Michael Gabriel, kritisierte in einem Interview mit diesem Blog die heutigen italienischen Verhältnisse aufs Schärfste. Dass Spieler in Italien zum wiederholten Male Partien manipulieren, lässt einen nur noch achselzuckend zurück, trägt aber keinesfalls dazu bei verlorenen Kredit zurückzugewinnen. Premierminister Mario Monti empfahl sogar eine mehrjährige Pause des Profifußballs.

Vereinsfußball schwächelt, Nationalteam berappelt sich immer wieder
Zu dieser tristen Zwischenbilanz kommt noch hinzu, dass seit einiger Zeit auch der italienische Vereinsfußball im internationalen Vergleich schwächelt. Deutschland verdrängte vor einem Jahr Italien auf Platz vier in der UEFA-Fünfjahreswertung, in der sich das Abschneiden aller Vereine in den europäischen Vereinswettbewerben niederschlägt. Nach der kommenden Saison könnten sich die italienischen Klubs sogar noch hinter Portugal und Frankreich wiederfinden. Die Vereine setzen zudem nicht gerade auf den heimischen Nachwuchs. Nationalspieler Riccardo Montolivo bestätigte vor einigen Wochen im „Spiegel-Interview“, dass nur relativ wenige junge italienische Talente den Sprung in die Serie A schaffen.
Wer sich allerdings diesem Negativtrend beharrlich wiedersetzt, ist die Nationalmannschaft. Oftmals war sie schon im Niedergang begriffen, nur um wenig später scheinbar unbeeindruckt und gestärkt zurückzukehren. Dem Ausscheiden in der Vorrunde der EM 1996 folgten 1998 das WM-Viertelfinale und die Vizeeuropameisterschaft 2000. Dem Ausscheiden in der Vorrunde der EM 2004 folgte der Weltmeistertitel 2006 und dem Ausscheiden in der WM-Vorrunde 2010 folgt nunmehr ein weiterer Höhenflug, der sie bis ins heutige Halbfinale gegen Deutschland getragen hat.

Nationalelf bei der EURO: Ohne Druck und mit großem Selbstvertrauen
Im Viertelfinale gegen England war die Squadra Azzurra nicht nur körperlich und spielerisch besser drauf, sondern vor allem mental. Sinnbild hierfür war der dreiste Lupfer von Andrea Pirlo im Elfmeterschießen. Pirlo ragte in dieser Partie als unheimlich laufstarker Taktgeber heraus. Sein Spiel errinnerte an einen Aufbauspieler im Basketball, der sich hinten den Ball schnappt, um seine Mitspieler in der gegnerischen Hälfte hervorragend in Szene zu setzen. Die Italiener strotzen nur so vor Selbstvertrauen und werden der deutschen Elf alles abverlangen. Sie haben jetzt schon mehr erreicht als die meisten erwartet haben, können deshalb befreit und ohne Druck aufspielen. Die Situation errinnert frappierend an die WM 2006. Damals trudelte der Ligafußball ebenfalls in einen Manipulationsskandal, die Nationalelf rückte eng zusammen und gewann im Halbfinale gegen Deutschland. Sollte dies heute wieder gelingen, dann könnte die nächste Euro aus italienischer Sicht vermutlich gerne wieder in Polen und der Ukraine stattfinden. Das Zetern und Klagen vom 18. April 2007 ist bei der „italienischen“ Euro in Osteuropa jedenfalls längst vergessen.