Nothin‘ left to lose: Gegen die Bayern haben die Lilien mal so rein gar nichts zu verlieren. Absturz auf Platz 18, sechs Niederlagen am Stück, Trainer geschasst. Dann am besten einfach fokussiert und leidenschaftlich ran an die Sache. Und warum auch nicht? Schließlich war in Freiburg endlich mal wieder Leben in der Mannschaft. Mit Christian (@texterstexte) kommt im Laufe meines Vorberichts ein Bayern-Fan und -Mitglied zu Wort, der bei der Inthronisierung von Uli Hoeneß nicht so ganz in die allgemeine Lobhudelei einstimmen wollte.
So sieht’s aus:
Das letzte Wochenende war schon ein wenig pervers. Da spielten die Lilien so überzeugend wie schon lange nicht mehr, verloren aber äußerst unglücklich kurz vor Schluss in Freiburg. Und als ob das nicht schon ärgerlich genug war, fuhr die Abstiegskonkurrenz geschlossen 1:0-Siege ein. So grüßt der SVD urplötzlich dann als Tabellenletzter (erstmals seit dem Wiederaufstieg), als die Leistung endlich mal wieder stimmte. Und zwar von Spieler 1 bis Spieler 14. Selbst die Bank ging mit und unterstützte das Team auf dem Platz über 90 Minuten lautstark und gestenreich. Es mutet reichlich surreal an, dass die Lilien ausgerechnet dann nach unten durchgereicht wurden, nachdem die so enttäuschende Meier-Ära endete. Da hat der Fußballgott in der Rückrunde aber noch ein etwas gut zu machen.
Warum erst dann? Weil die verbleibenden beiden Partien vor Weihnachten eher undankbar sind. Zuhause gegen die Bayern und bei der Hertha. Okay, in Berlin hat der SVD im Mai den Nichtabstieg klar gemacht, aber gegen Bayern sollte im Normalfall nichts zu holen sein. Erst recht, wenn der Rekordmeister keine englische Woche in den Knochen hat, eben erst die Tabellenführung zurückeroberte und sich vor dem Spitzenduell gegen RB Leipzig überhaupt keine Blöße geben will. Es gäbe also wahrlich bessere Zeitpunkte für dieses oft zitierte Bonus-Spiel.
Dann lieber wieder auf die positiven Aspekte des Auftritts der 98er in Freiburg schauen. Interimscoach Ramon Berndroth packte acht Feldspieler aus der Schuster-Ära in die Startelf. Genauso trat die Elf dann auf. Da war wieder Leben in der Bude, jeder rannte für den anderen. Kampf und Leidenschaft waren Trumpf. Es wurde viel gesprochen, viel angefeuert, viel abgeklatscht. Die neue Innenverteidigung (Aytac Sulu und Peter Niemeyer) bildete ein starkes Rückgrat des Teams und verlieh ihm Stabilität. Sie hielt förmlich das Stopp-Schild hoch: Bis hierhin und nicht weiter. Die Freiburger kamen im eigenen Stadion folglich nicht so zum Zug, wie sie das gewohnt sind. Ganz im Gegenteil verzeichneten die Lilien über die gesamte Spielzeit ein Plus an Torchancen. Trotz der unglücklichen Niederlage machte das Auftreten allen Lilien-Fans – und sicher auch dem Team – Mut. Deshalb fand nicht nur vor dem Spiel ein Schulterschluss zwischen Fans und Spielern statt, sondern auch nach dem Spiel.
Was den Gesamteindruck nach Spielschluss trübte, war Berndroths Aussage, dass es einen Verräter in der Mannschaft gäbe, der sich hoffnungslos überschätze. Gerade, als das Team so geschlossen wie lange nicht auftrat, musste die Äußerung irritieren. Am Tag danach ruderte er zurück, doch da hatte die Presselandschaft die Steilvorlage schon längst aufgegriffen. Bleibt zu hoffen, dass das Verhältnis zu Alexander Milosevic, der wohl maßgeblich gemeint war, nicht nachhaltig gestört ist. Auch er wird sicher wieder gebraucht, und dann ist man heilfroh, wenn er es mit Leistung zurückzahlt. Alles in allem war es eine überflüssige Baustelle. Abgesehen davon hat es Berndroth geschafft den Kopf der Spieler freizubekommen und sie altbekannten Fußball spielen zu lassen. Alleine dafür gebührt ihm Dank.
Dass gestern mit Dirk Schuster der Schöpfer des altbekannten Fußballs nach seiner Entlassung in Augsburg wieder auf dem Markt ist, ist eine weitere Pointe dieser Wochen. Viele Lilien-Fans würden Dirk Schuster gerne wieder zurückholen. Präsident Rüdiger Fritsch nicht, denn er erteilte diesen Spekulationen heute eine Absage. Abgesehen davon kann ich mir nicht vorstellen, dass Schuster sonderlich viel Wert auf eine Rückkehr legt. Er will sich anderswo beweisen und sicher nicht zum one-club-wonder werden. Zudem kann schlicht und ergreifend niemand garantieren, dass er die Lilien zum nächsten Wunder coacht.
Der Kontrahent hat das Wort:
Christian ist seit 35 Jahren Bayern-Fan und seit 17 Jahren Vereinsmitglied. Auf Twitter folgt man dem guten Mann unter @texterstexte.
Christian, wie hast Du Dir zum Saisonauftakt die Bayern-Hinrunde ausgemalt und wie zufrieden bist Du jetzt mit dem bisherigen Saisonverlauf?
Dass es nach dem Trainerwechsel holprig werden könnte, hatte ich vor Saisonstart erwartet, wollte es aber nicht wirklich wahrhaben. Und die Ergebnisse stimmten ja auch insgesamt. Dennoch: Wenn Du mich das noch vor ein paar Wochen gefragt hättest, wäre ich unzufrieden gewesen. Mit dem System. Der taktischen Ausrichtung. Der Unausgewogenheit zwischen Offensive und Defensive. Aber in den letzten Spielen ist eine gute Entwicklung zu erkennen. Die Mannschaft und Carlo scheinen sich gefunden zu haben.
Du sprichst Carlo Ancelotti an. Er gilt als Trainer, der seinen Spielern Freiheiten lässt. Wie hat sich das im Spiel der Bayern bemerkbar gemacht?
Diese so genannten Freiheiten habe ich eher als Orientierungslosigkeit wahrgenommen. Die gewohnten Positionen und damit Passwege der Guardiola-Zeit verschwanden schnell. An diese Stelle ist zunächst nichts sinnvoll Neues getreten. Nun, mit ein paar Umstellungen (Müller hinter den Spitzen, bessere Staffelung der ganzen Mannschaft) erkenne ich ein paar Veränderungen: Wir versuchen schnell und direkt in die Spitze zu spielen, lassen bei einer Führung den Gegner auch mal etwas kommen, um dann den freien Raum dahinter zu nutzen. Und: Unsere Standards sind etwas besser geworden.
Es lief also zunächst nicht alles rund. Wenn Du die Spieler betrachtest, wer hat dich bislang eher enttäuscht und wer ist für dich unersetzlich?
Phasenweise hat man Alaba und Boateng angemerkt, dass sie nicht fit sind, überspielt wirken. Das ist aber Kritik auf hohem Niveau. Wirklich enttäuscht hat mich kein einzelner Spieler, mehr die Spielweise der ganzen Mannschaft. Unersetzlich sind nach wie vor Ribery, Robben und auch Lahm, wenn er fit ist. Um nur mal die alten Säcke zu nennen. Und für den Rest des Kaders: Wir können auf niemanden verzichten. Nicht bei unserem Verletzungspech …
Rechnest Du mit einem offenen Meisterschaftsrennen, oder macht ihr frühzeitig den Deckel drauf?
Das Rennen wird sicher bis zum Schluss relativ offen bleiben. Allgemein vermutet man ja einen kleinen Einbruch bei Leipzig, den ich aber nicht kommen sehe. Die haben ein Spiel pro Woche. Abgesehen von Leipzig sehe ich gerade keinen echten Titelkonkurrenten, da Dortmund jetzt schon acht Punkte weg ist.
Provokant gefragt: Wie lange wird es dauern, bis Bayern den ersten Spieler aus der aktuellen Leipzig-Mannschaft verpflichtet?
Ich muss gestehen, dass ich einzelne Spieler der Leipziger Mannschaft noch nicht so gut kenne. Warten wir einfach ab, wer in den Spielen gegen Bayern mehrere Tore schießt. Der wird dann nach alter Tradition sofort verpflichtet 😉
Hab ich mir’s doch gedacht. (lacht) Alles redet bereits vom Spitzenspiel gegen Leipzig am kommenden Spieltag. Rechnest Du damit, dass sich die Bayern in Darmstadt warmschießen oder die Angelegenheit nüchtern runterspielen?
Die Bayern sind so abgezockt, dass sie noch nicht an Leipzig denken werden. Wir werden „seriös und konzentriert“ (Rummenigge-Sprech) in Darmstadt auftreten. Ein „Warmschießen“ wird aber nicht stattfinden. Das wird bei den von mir erwarteten wieder bissigen Darmstädtern ein schweres Stück Arbeit.
Als Bayern-Fan musst Du dich ja eher mit Teams wie Arsenal FC beschäftigen. Wie blickst Du da auf einen Kontrahenten wie Darmstadt 98?
Im Detail kenne ich mich nicht gut genug mit Darmstadt 98 aus. Grundsätzlich freue ich mich darüber, dass Ihr in der ersten Liga dabei seid. Lieber viele Darmstadts als noch ein weiterer Retortenverein! Mir gefiel in der letzten Saison übrigens auch Eure „dreckige“ Spielweise. Dass Ihr den spielerisch stärkeren Gegnern ständig auf den Füßen herumstandet und ihnen auf die Nerven gegangen seid. Habe das Spiel von Darmstadt in München im Stadion gesehen und das war ein sehr couragierter, frecher Auftritt. Anscheinend ist aber genau diese Stärke verloren gegangen. Warum? Kein Ahnung. Aber Darmstadt 98 sollte sich schnell wieder darauf besinnen, weil das glaube ich die einzige Überlebenschance in der Liga ist.
Da sprichst Du wahre Worte gelassen aus. Zurück zu den Bayern: Die Jahreshauptversammlung im November wirkte mit der Inthronisierung von Uli Hoeneß auf mich wie der politische Aschermittwoch der CSU. Wie hast Du die Stimmung erlebt?
Manche sprachen auch von „Krönungsmesse“. Und so wars auch. Da ich zu den 108 Gegenstimmen bei der Präsidentenwahl gehörte, erlebte ich die Stimmung als ziemlich aufgeputscht, in Teilen aggressiv. Wobei ich klar sagen möchte: Uli Hoeneß beim FC Bayern – volle Zustimmung. Ich hätte mir nur gewünscht, dass er auf das Präsidentenamt verzichtet. Das ist für mich jetzt ein „weiter so“, als wäre nichts gewesen.
Du hast sogar auf dem Podium sprechen dürfen und dabei angemahnt, der FC Bayern solle seine Werte nicht aus dem Blick verlieren. Was genau ist Dir ein Dorn im Auge?
Der FC Bayern beruft sich auf bestimmte Werte, die Teil seiner Identität sind. Werte wie Fairness, soziale Verantwortung, Zivilcourage. Mit einigen Entscheidungen der Vereinsführung in den letzten Jahren werden diese Werte jedoch mit Füßen getreten, verkommen zur Folklore. Die Trainingslager in Katar, die „Platin-Partnerschaft“ mit dem Flughafen Doha sind da nur zwei Beispiele. Der Verein tritt zudem in meinen Augen immer wieder geradezu schizophren auf: Einerseits thematisiert er mit Plastik-Recycling-Trikots die Menge an Plastikmüll in den Meeren, um gleichzeitig in der Allianz Arena mehrere Millionen von Einweg-Plastikbechern auszugeben. Einerseits setzt der Club sich toll für Flüchtlinge ein, unter anderem mit einem Benefizlauf. Doch dafür holt er die BILD ins Boot, die immer wieder gegen Flüchtlinge hetzt.
Wie schätzt Du die Sensibilität der aktiven Bayern-Fans für solche Themen ein?
Bei meiner Rede habe ich keine Pfiffe gehört, sondern Applaus bekommen. Das hätte ich so nicht erwartet. Anscheinend merken doch viele aktive Fans, dass vereinspolitisch einiges im Argen liegt. Auch wenns dann im Alltag verdrängt wird. Mittlerweile glaube ich: Würde Hoeneß diese Themen vertreten, wären alle Bayernfans begeistert.
Christian, herzlichen Dank für das Gespräch.
Gerne!
An diesem Wochenende vor vier Jahren:
Da erlebten die 98er in der 3. Liga eine durch und durch frustrierende Auswärtspartie. War die erste Hälfte noch einigermaßen in Ordnung, verloren die Lilien in der zweiten Halbzeit völlig den Zugriff auf das Spitzenteam von Preußen Münster. Ursächlich waren im ersten Abschnitt zwei nicht genutzte Hochkaräter durch Uwe Hesse und Kacper Tatara sowie der 0:1-Rückstand kurz vor dem Pausentee. Nach Wiederanpfiff hatte Münster leichtes Spiel und ein gewisser Marco Königs vervollständigte seinen Dreierpack zur deutlichen 0:3-Niederlage. Die Lilien überwinterten damit als Tabellen-20. in der 3. Liga. Am 17. Dezember 2012 entließ der SVD seinen Coach Jürgen Seeberger.
Die Lilien-Mannschaft vom 0:3 bei Preußen Münster:
Zimmermann – Gaebler, Islamoglu, Beisel, Stegmayer – Behrens (da Costa), Latza – Baier (Hübner), Zimmerman, Hesse – Tatara (Steegmann)
Pingback: Spieltag 15 (#d98fcb): „Lieber viele Darmstadts als noch ein Retortenverein.“ | re: Fußball