Jetzt ist er spätestens perfekt, der Fehlstart des SVD. Neun Partien sind absolviert und damit ein Viertel der Saison 2019/20. Die Lilien stehen mit acht Punkten auf dem vorletzten Tabellenplatz. Das Ganze wird allmählich ungemütlich. Nicht erst seit dem 1:1 gegen den Karlsruher SC wird die Personalie Dimitrios Grammozis unter den Anhängern diskutiert. Und jetzt? Nehmt euch einen Kaffee oder ein Kaltgetränk, das Lesen meines Einwurfs dürfte etwas länger dauern.
Die Ausgangslage
Als Dimitrios Grammozis im Februar das Ruder bei den 98ern übernahm, lag der Klub vier Zähler vor der Abstiegszone auf Rang 14. Anschließend stabilisierte der neue Coach erstaunlich schnell die zuvor beständig Rückständen hinterherlaufenden Lilien und führte sie aus dem Tabellenkeller. Es war nicht alles Gold was glänzte, doch insbesondere die ermutigenden Siege gegen Kiel, den HSV und Union Berlin zeigten, das ein neuer Fußball Einzug halten könnte. Ein proaktiver Fußball. Ein zufriedenstellender Saisonabschluss auf Rang zehn machte Lust auf mehr. Erst recht, nachdem frühzeitig fleißig am Kader geschmiedet wurde. Anfang Juli waren neun der letztlich elf Neuen schon da. Jung, flink, durchaus technisch versiert und überwiegend mit Zweitligaerfahrung. Das sah doch mal nach planvoller Kaderplanung aus. Nicht mehr Neuzugänge, die gegen Ende der Transferperiode irgendwo hinten runter gefallen waren, wie es Dirk Schuster gerne formulierte, oder die auf Leihbasis kamen. Das Spielsystem der 98er sollte dem Gros der Neuen über die volle Vorbereitungszeit vermittelt werden. Die Grundlage für den nächsten Schritt in der Zweitligakonsolidierung schien gelegt. Der Tabellenkeller sollte tunlichst ohne den SVD auskommen.
Die bisherigen Spiele
Der Auftakt beim HSV verlief verheißungsvoll. Zwar geriet das tief stehende Team bei einem der heißen Aufstiegsanwärter in Hälfte 1 arg unter Druck, hielt dem aber mit kompakter Defensivarbeit und etwas Glück stand. Zur Halbzeit stellte Grammozis um, Fabian Schnellhardt raus, Tim Skarke rein, und keine Minute später stand es durch eben jenen 1:0. Damit war dem HSV der Stecker gezogen, so dass die Lilien ihn mühelos vom Kasten fernhielten. Bis, ja, bis der VAR dem Gastgeber auf den letzten Drücker zum Ausgleich verhalf. Fazit: Ein unglücklicher Punktverlust. Mit dem Auftritt durfte man aber letztlich einverstanden sein.
Gegen Kiel spielte den Lilien bei Affenhitze ein frühes 1:0 in die Karten. Sie überließen den Gästen den Ball, verurteilten sie aber zur Wirkungslosigkeit. Das 2:0 per Elfer machte den Deckel drauf. Fazit: Ein Spielverlauf ganz nach dem Geschmack der Hausherren und ein verdienter 2:0-Erfolg.
Gegen Osnabrück folgte ein in dieser Ausprägung unerwarteter Schiffbruch. Der SVD ließ sich vom Aufsteiger nach allen Regeln der Kunst überrollen und kehrte arg gerupft nach Hause. Eine in dieser Höhe verdiente 0:4-Niederlage ließ die Fans einigermaßen ratlos zurück. Fazit: Kein Land in Sicht an der Bremer Brücke. Lehren ziehen und beim nächsten Mal besser machen!
Die Wiedergutmachung sollte vier Tage später gegen Dresden am Bölle folgen. So wünschten es sich die Fans. Doch: Der SVD zeigte überhaupt kein Interesse an einer aktiven Spielgestaltung. Stattdessen bestand die Marschroute darin, kein Tor zu kassieren und irgendwie einen Punkt als Mutmacher zu ergattern. Das ging letztlich auf, machte die Fans aber noch ratloser. Fazit: Ein Punkt ist ein Punkt, aber mit einem arg beschränkten Auftritt. War da gerade ein aktives Spielsystem zu Grabe getragen worden? Oder war das schlicht Pragmatismus pur? Anders als im Vorjahr, als ein 1:4 in Dresden in vier Niederlagen am Stück mündete, blieben dieses Mal die Schotten dicht.
In Sandhausen zeigte das Team sich wieder von seiner besseren Seite. Die erste Hälfte ging nach Punkten an einen mutigen SVD. Auch Sandhausens Coach gab hernach zu, dass er die Lilien anders erwartet hätte. Was allerdings zur Pause fehlte: das 1:0! Mit einem ziemlich dämlichen Rückstand nach der Halbzeit (eigener Konter nicht sauber zu Ende gespielt, Gegenzug, Schuss, geblockt, Schuss, geblockt, Schuss, Tor) und einem Platzverweis für Victor Pálsson beraubte sich das Team selbst aller Chancen. Fazit: Eine ebenso unglückliche wie unnötige Niederlage gegen einen effizienteren Gastgeber.
Als nächstes kam der Club ans Bölle und das Team zeigte erneut, dass es gewillt war, alles besser zu machen, und zwar spielerisch. Mit Seung-ho Paik kam ein ballsicherer Spieler neu hinzu und es spottete der gezeigten Leistung, dass die Lilien mit einem 1:2 in die Pause gingen. Anschließend überstanden sie eine Druckphase der Gäste, drehten das Spiel, nur um sich kurz vor knapp den Ausgleich einschenken zu lassen. Fazit: Spektakel am Bölle mit reichlich Fußball, aber einem ärgerlichen Ausgleichstreffer. Dennoch ging die Punkteteilung unter dem Strich in Ordnung.
In Heidenheim sah man dann wieder eine verzagtere Lilienelf. Beide Teams begegneten sich auf Augenhöhe, ohne spielerisch zu überzeugen oder sonderlich viele Torchancen zu kreieren. Dass letztlich ein verunglückter Schuss das Tor des Tages für den Gegner bedeutete, während man selbst am Ende nur die Latte traf, war überaus ärgerlich. Fazit: Ein klassisches 0:0 wird durch ein Slapsticktor zu einer Niederlage.
In Bochum präsentierten sich die 98er in Halbzeit 1 schwach. Die Gegentore fielen zu leicht und das Team machte sich das Leben selbst schwer. In Halbzeit zwei dann erneut ein anderes Bild mit einer aktiven Elf, die sich freilich zu wenig klare Chancen herausspielte. Dennoch belohnte sie sich kurz vor Schluss mit dem Ausgleich, dem fast noch der Lucky Punch durch Serdar Dursun gefolgt wäre. Fazit: Da war mehr drin, aber angesichts des späten Ausgleichstreffers herrschte doch irgendwie Erleichterung.
Gegen den KSC schaffte es das Team erneut nicht die Null zu halten. Einer frühen Führung folgte postwendend der Ausgleich. Danach nahm ein durchweg engagiertes Team das Spiel in die Hand und kombinierte sich bisweilen stark bis ins letzte Spieldrittel, doch dann war Ende Gelände. Zu wenige Schüsse aufs Tor für reichlich Aufwand. Und zum Schluss hätten die Gäste mit zwei Großchancen das Spiel fast noch für sich entschieden. Fazit: Trotz der Spielanteile blieb der fällige Befreiungsschlag aus. Letztlich hätte aber sogar der KSC siegen können.
Ergo: Es war bislang längst nicht alles schlecht, vieles sogar ganz okay. Aber: nur drei Punkte machen das Punktekonto fett. Und die hätten durchaus fallen können. Gegen den HSV und den Club fielen die Ausgleichstreffer erst spät.
Die Statistiken
Neun Spiele: Ein Sieg – fünf Remis – drei Niederlagen, 9:13 Tore, Platz 17!
Bei der Anzahl der Niederlagen und der Gegentreffer fallen die Lilien nicht sonderlich negativ auf. Die Anzahl der Unentschieden ist definitiv zu hoch, die Siege und eigenen Treffer definitiv zu niedrig. So wird man zum Kellerkind.
Dabei zeigen die Lilien definitiv einen anderen Spielstil als noch vor Jahresfrist im ebenso tristen Herbst, als sie in den Partien in Dresden (1:4), Kiel (2:4) und gegen Bielefeld (1:2) sowie den HSV (0:2) pomadig und zunehmend überfordert agierten. Das Langholz ist passé. Bei den langen Bällen zählen die Lilien aktuell im Ligavergleich zu den Schlusslichtern (Platz 15). Stattdessen gehören Steilpässe zum Spielrepertoire und auch beim Kurzpassspiel zählen sie immerhin zum Mittelfeld der Liga. Anfällig sind sie hingegen in der Defensive für Konter und bei Standards, während sie vorne ihre Chancen liegenlassen. All das ist nachzulesen bei den Statistikern von whoscored.com.
Der angestrebte Fußball
Ein Spielzug ganz nach dem Geschmack von Grammozis sieht wohl so aus wie in der 52. Minute gegen den KSC: Tim Skarke legt mit dem Rücken zum Gegenspieler noch in der eigenen Hälfte zurück auf Pálsson, der passt direkt nach vorne auf Dursun, der auf Paik prallen lässt, der den durchstartenden Marcel Heller steil in Richtung KSC-Gehäuse schickt. All das mit nur je einem Kontakt und blitzschnell. Die Laufwege passen. Dursun, Skarke und Mehlem sprinten wie Heller nach vorne. Der Gegner kommt nicht in die Zweikämpfe, muss hinterherlaufen und ist unsortiert. Heller hat den Platz, den er so liebt, agiert anschließend im Strafraum aber zu eigensinnig. Er sucht den eigenen Abschluss, statt die besser postierten Skarke und Dursun einzubeziehen.
Stattdessen …
Die Lilien tun sich noch schwer, das System Grammozis überzeugend auf den Rasen zu bringen. Aktive Phasen oder Halbzeiten, wechseln sich noch zu oft mit eher phlegmatischen ab. Die offensive Durchschlagskraft geht der Mannschaft noch ab. Das überrascht angesichts eines Hauptaugenmerks auf diesen Mannschaftsteil bei den Neuzugängen. Allerdings war Mathias Honsak verletzungsbedingt erst jüngst eine Option, Braydon Manu überhaupt noch nicht. Erich Berko fiel ebenfalls lange aus. Und Felix Platte ist und bleibt der Pechvogel und damit außen vor. So waren Serdar Dursun, Marcel Heller und Marvin Mehlem oft alternativlos. Das Offensivspiel der 98er birgt in letzter Konsequenz zu wenig Überraschungsmomente. Erspielte Hochkaräter bleiben Mangelware. Das war gegen Karlsruhe beispielhaft. Außer einem Abseitstor und ungenauen Schüssen aus der Halbdistanz oder größerer Entfernung erzeugten die Lilien zu wenig Torgefahr. Zudem treffen Spieler vor dem Tor falsche Entscheidungen. Gegen Karlsruhe übersah Heller in der oben geschilderten Szene seine Mitspieler. Pálsson muss in einer Situation nur auf den am Strafraum ungedeckten Dursun durchstecken, um diesem eine dicke Chance zu ermöglichen, legt aber stattdessen nach einem Alleingang nach außen auf Skarke, der einen deutlich unvorteilhafteren Winkel zum Tor hat. Und Mehlem zieht in einer anderen Situation nicht direkt ab, sondern entscheidet sich lieber an der Strafraumbegrenzung ins (erfolglose) Dribbling zu gehen.
Auch die Flanken, auf die die Lilien immer noch sehr häufig zurückgreifen, erzeugen viel zu selten Gefahr, denn in der Mitte steht nur (oder bestenfalls) ein nachrückender Dursun, der sich zuvor noch selbst am Spielaufbau beteiligt hatte. Das heißt, der Alleinunterhalter im Sturmzentrum muss sich erst stark aufreiben, bevor er sich als Abnehmer von Vorlagen aussichtsreich positionieren kann. Hinzu kommt: Die Offensivakteure um ihn herum sind schlicht weg zu harmlos. Skarke, Heller, Mehlem & Co. sind eben keine personifizierte Torgefahr! Warum also nicht doch mal auf eine Doppelspitze zurückgreifen mit einem um Ognjen Ožegović herumspielenden Dursun? Oder warum suchen die Außen nicht häufiger in Strafraumnähe den Weg an die Grundlinie und legen den Ball von dort in den Rücken der Abwehr?
Der KSC-Keeper musste sich jedenfalls am Freitag so gut wie gar nicht auszeichnen. Dabei war der Aufwand der Lilien enorm und durchaus sehenswert. Einsatz, Wille, Passpiel, alles war vorhanden. Laufleistung, Passquote, Ballbesitz, alles deutlich mehr als der KSC. Es kommt aber darauf an, dass der Ball im Netz zappelt und da agieren die Kontrahenten zumeist zwingender. Individuelle Patzer in der Defensive (zuletzt durch Flo Stritzel gegen Karlsruhe) oder wahlweise auch zu wenig Druck auf die Vorlagengeber (wie in Bochum) und schon geben die 98er einen Vorsprung her oder laufen einem Rückstand hinterher.
War das vor einem Jahr fast schon gleichbedeutend mit der Niederlage einer spielerisch arg limitierten Lilienelf, so ist dies nun immerhin anders. Außer gegen Osnabrück war der SVD nie die unterlegene Elf. Er agierte oft auf Augenhöhe (was je nach Gegner freilich auch Luft nach oben ließ). Die Mannschaft ist – wenn man so will – im Spiel, muss im letzten Drittel allerdings den Gegnern deutlich mehr Rätsel aufgeben.
Die Personalien
Es hat sich noch keine wirklich überzeugende Achse herausgebildet. Stritzel im Tor machte seine Sache anfänglich gut, wird nun aber wieder Rückkehrer Schuhen weichen müssen. Pálsson ist auf der Sechserposition die einzige Konstante, aber noch weit davon entfernt, der Chef auf dem Platz zu sein. Mehlem ist noch nicht der Faktor, der er von seinen Fähigkeiten her eigentlich sein müsste und Heller ist eben – ein zwischen Kreis- und Spitzenklasse lavierender – Heller, während Dursun nicht mehr so selbstverständlich knipst wie noch in der Vorsaison. Spieler hingegen wie Honsak oder Schnellhardt, denen ich persönlich mehr Gewicht im Lilienspiel zugeschrieben hätte, sind beim SVD noch nicht angekommen.
So haben wir einen großen Kader beisammen, der sich noch finden muss. Das sorgt sicher für Unmut bei den Spielern, die nicht zum Zug kommen. So wie bei Tobi Kempe, der derzeit komplett außen vor ist und der von einigen Fans vehement gefordert wird. Aber ein Trainer muss so aufstellen, wie er es für richtig hält. Und auch Kempe taugt nicht zum Heilsbringer per se. Denn noch in der letzten Saison wurde deutlich vernehmbar über seine fehlende Schnelligkeit und das durch ihn verschleppte Spiel gemosert.
Und jetzt?
Grammozis lässt Fußball spielen und damit bin ich persönlich schwer einverstanden. Ein solcher Fußball lebt davon, dass Tore erspielt (noch ein Manko) und hinten Fehler vermieden werden (was aber nicht zu 100 Prozent ausbleiben kann, da die Verteider stark ins Aufbauspiel eingebunden sind und das Team höher steht). Leider hat die Mannschaft noch keinen goldenen Weg gefunden, um sich für ihren Aufwand zu belohnen. Mit Punkteteilungen kommt das Team jedenfalls nicht vom Fleck, sondern wird wie in einem Moor vom Tabellenkeller aufgesogen. Das Umfeld wird deshalb unruhig. Erst recht, wenn ein vor zehn Tagen noch abgeschlagenes Schlusslicht wie Wehen plötzlich zweimal gewinnt und aufschließt. Ein Wehen, das gegen Stuttgart eine fast lachhafte Spielbilanz aufwies (68 erfolgreiche Pässe, 83 Fehlpässe, 6 Torschüsse) und alles Glück der Welt benötigte (viermal rettete der Pfosten), am Ende aber einen Dreier einfuhr, während die Lilien Fußball spielten (557 Pässe, Passquote: 82 Prozent, Ballbesitz: 64 Prozent, 23 Torschüsse), aber den Befreiungsschlag versäumten. Da sind immer mehr Magerkost gewohnte Lilienfans gerne dabei, den „brotlosen“ Grammozis-Fußball lieber heute als morgen vom Hof zu jagen.
Doch was soll der Verein tun? Den nächsten Trainer schmeißen, verbunden mit der nächsten Systemumstellung? Dabei aber auf jüngst verpflichtete Spieler zurückgreifen, die dafür womöglich gar nicht zu gebrauchen sind? Hat der Sportverein nach Torsten Frings auch mit der Grammozis daneben gegriffen? Mit einem Coach, der den Klub im Verbund mit Sportdirektor Wehlmann doch sportlich weiterbringen sollte. Planvoll, schrittweise, aber doch mutig nach vorne. Ganz im Sinne eines dringend notwendigen Abnabelungsprozesses von der Ära Schuster. Gegen St. Pauli wird Grammozis weiter am Ruder sein. Kommt dort kein Dreier zustande, und ebensowenig eine Woche später gegen Aue, dann dürften sich Sportdirektor und Präsidium doch genötigt fühlen zu handeln. So könnte Schuster seinem Nachfolger gewissermaßen die Entlassungspapiere überreichen. Ein solches „Ausgerechnet“-Szenario wäre irgendwie typisch für den SVD. Ich will aber dem Emanzipationsprozess unter Grammozis gerne weitere Chancen geben. Damit der SVD endlich den nächsten Schritt macht, und zwar in der 2. Bundesliga. Denn das Team ist (noch) meilenweit davon entfernt, sich so überfordert und planlos zu präsentieren wie in den Endphasen unter Frings und Schuster. Klar ist aber auch: Fußball ist ein Ergebnissport und es müssen Dreier her. Noch ist die Tabelle eng beisammen und Sprünge sind möglich. Sie müssen aber auch folgen. Für mich am liebsten mit Grammozis!
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