Die Lilien-Saison 2020/21: Eine Analyse

Das war sie also, die Spielzeit 2020/21. Die Lilien beendeten sie auf einem lange nicht für möglich gehaltenen Rang sieben. Eine noch bessere Rückrunde (33 Punkte) als in der schon bemerkenswerten Vorsaison hievte den SVD noch in die obere Tabellenhälfte. Ein von den gegnerischen Teams kaum zu bändigender Serdar Dursun feuerte sich mit 17 Treffern im letzten Saisondrittel zur Torjägerkanone. Seine alles in allem 27 Kisten werden nächste Saison fehlen. Doch was war nun zu halten, von der zurückliegenden Saison, mit zeitweiser Abstiegsangst und starkem Finish? Von einer Spielzeit, die aberwitzige Punktverluste en masse bereit hielt? In der der neue Coach Markus Anfang und sein Team lange brauchten, um Aufwand und Ertrag ins Lot zu bringen? Ich hielt bei Twitter Ausschau nach einem Fachmann, der Beobachtungen mit Zahlen und Daten unterfüttert. Und ich fand Florian. Der Nürnberger Journalist befasst sich in seinen Spieltagskolumnen intensiver mit den kommenden Gegnern des 1. FCN. Und so beschäftigte er sich im letzten Jahr mehrmals mit den Lilien. Denn neben den direkten Duellen zwischen Lilien und Club (Hinrunde und Rückrunde), beinhaltete seine Sichtung der Spiele der kommenden Club-Gegner weitere Partien mit Lilien-Beteiligung. Also, Vorhang auf für einen Rückblick auf die Lilien-Saison aus neutraler Sicht und mit fundierter Brille. Einen ebenso riesigen wie herzlichen Dank, Florian, für die investierte Arbeit!

Wer bin ich und warum schreibe ich plötzlich über Darmstadt? Die Frage ist, wenn man es mit den Lilien hält, natürlich absolut berechtigt. Nun, zum einen einfach Matthias‘ Bitte, dass jemand von extern doch mal eine Einordnung der Lilien-Saison versucht. Zum anderen liegt es am gewählten Ansatz. Der Versuch Fußball durch Zahlen und Daten zu erklären, ist sicher nicht für alle ein Genuss. Ich erhebe auch keinen Anspruch, dass der Ansatz allumfassend und allein glückseligmachend ist. Er ist vielmehr ein Versuch das, was man sieht zu objektivieren und zu erklären. Es ist aber immer nur lediglich eine Annährung, eine Ergänzung, keine Weltformel des Fußball.

Vor der Saison
Rein personell war der Verlust von Dumic wahrscheinlich der schwerwiegendste. Unumstrittener Stammspieler, Präsenz in den Defensivduellen, war dazu noch fähig den Ball zum Mitspieler zu bringen. Das hat man versucht, mit dem Zugang von Mai zu kompensieren. Das hat aber gerade in Sachen Zweikampfführung wahrscheinlich nur so leidlich funktioniert. Bei Stark und Heller war die Zeit wohl einfach abgelaufen, gerade weil da der Kader in Form von Skarke und Rapp/Pálsson weiterhin genug hergab. Stanilewicz war eine Investition in die Zukunft. Der hatte sicher damit zu kämpfen, dass er zuvor eine ganze Saison lang fast keine Minuten im Seniorenbereich hatte. Bei Seydel war angesichts der Verletzungshistorie möglicherweise zu erwarten, dass es zu sowas kommen könnte, wie dann passiert ist. Andererseits ist so eine Wette auf einen anfälligen Spieler ja durchaus was, was man machen kann, wenn man Serdar Dursun im Kader hat.
Der Wechsel auf der Trainerbank war sicher entscheidender. Grammozis hatte defensiv eine gut funktionierende Mannschaft entwickelt. Keine Mannschaft hatte es 2019/20 geschafft, den Gegner durch konzentriertes Schieben und Verteidigen so weit vom eigenen Tor wegzuhalten wie die Lilien: 19,34 Meter war die durchschnittliche Entfernung eines Abschlusses gegen Darmstadt gewesen. Anfang war dann beim Blick auf die Art von Fußball, die er in Köln und Kiel spielen hat lassen, eine konsequente Wahl für eine Mannschaft die defensiv gut, aber offensiv ausbaufähig aufgestellt ist: Anfang stand vor allem für Spektakel, gerade wenn er mit einer funktionierenden Defensive arbeiten kann. Wenn man an die Zeiten in Kiel und Köln denkt, so hatte er da den vierthöchsten bzw. zweithöchsten Ballbesitz der 2. Bundesliga, hatte mit Kiel 2017/18 die meisten „deep completions“, also Zuspiele, die innerhalb eines Radius von 20 Metern um das Tor ankommen und mit Köln die drittmeisten.

Unter Grammozis hielten die Lilien die Gegner beim Torabschluss so weit vom Tor fern wie sonst kein Zweitligateam. (Quelle: Flo Zenger)

In der Saison – Mannschaftlich
Die Ergebnisse seit der Heimniederlage gegen den KSC am 23. Spieltag sind sicher die entscheidende Geschichte der Saison bei den Lilien. In der Phase danach ist Darmstadt Tabellenführer. Der auffälligste Unterschied zwischen den 23 Spielen davor und den elf danach ist der Ballbesitz. Der fiel von knapp 54 Prozent auf 42 Prozent. Im Schnitt spielte Darmstadt damit fast 120 Pässe pro Spiel weniger – vorher 454 Pässe pro 90 Minuten, danach 335. Hinzu kommt, dass mit weniger Ballbesitz die Pressingintensität deutlich gesunken ist. In der ersten Phase bis zum Spiel gegen Paderborn lag der PPDA-Wert – also die Anzahl der zugelassenen gegnerischen Pässe im eigenen Verteidigungs- und Mitteldrittel pro eigener Defensivaktion – bei 10. Anschließend stieg er auf 14,6. Das heißt, Darmstadt ließ den Gegner also mehr kommen und teilweise bis tief in die eigene Hälfte kombinieren. Aber – und das ist das eigentlich bezeichnende: Das Abwarten bei gegnerischem Ballbesitz führt zu deutlich besseren offensiven Ergebnissen. Die so viel höhere Anzahl an Toren kann man sicher noch unter „statistisches Rauschen“ abtun, dafür ist das weit über den expected Goals. Aber auch diese erwartbaren Tore sind besser geworden, d.h. das abwartende Spiel führt tatsächlich zu besseren Torchancen. Wobei abwartend und defensiv es tatsächlich nur zum Teil trifft. Darmstadt geht viel mehr einfach deutlich direkter zum Angriff über. Der Anteil der Querpässe ist deutlich gefallen, dafür ist der Anteil der Vorwärtspässe in gleichem Maße gestiegen.

Die Gegner dürfen mehr den Ball haben. Ein paar interessante Zahlen, die zeigen, wie die Lilien bis zur Niederlage gegen Karlsruhe (0:1 am 23. Spieltag) auftraten (blau) und was sich in der anschließenden erfolgreichen Phase änderte (orange). (Quelle: Florian Zenger)

Hat Anfang da jetzt seine Prinzipien verraten? In Sachen Ballbesitz ist er sicher abgerückt. Bei Kiel (53,6%) und Köln (57%) setzte er ganz stark auf Ballbesitz. Mit seinem massiven Ballbesitzfußball hat er möglicherweise eine Mannschaft wie die Lilien, deren Ballbesitz im Vorjahr noch bei 46,9% lag und die sich personell nicht entscheidend verändert hat, überfordert. Andererseits zeichnet es eben einen guten Trainer aus, dass er das erkennt und sich anpasst. Es war ja in Sachen Grundformation ein bisschen mehr back-to-basics, mehr 4-2-3-1, was die meisten Spieler von der Pike auf gelernt haben. Andererseits ist er vom Spektakel gar nicht so sehr abgerückt, er hat sich eben nur mehr auf das verlassen, was in der 2. Bundesliga oft erstaunlich gut funktioniert: Dem Gegner den Ball überlassen und dann schnell umschalten, wenn man den Ball gewinnt. So gesehen ist Darmstadt derzeit im Stil eher ein generischer Zweitligist, der einen sehr typischen Zweitligafußball spielen lässt, allerdings dies auf sehr hohem Niveau tut. Die Tabellenführung in der Auflistung der letzten elf Spiele kommt nicht von ungefähr.

In der erfolgreichen Phase am Ende der Saison (orange) legten die Lilien das Spiel vertikaler an, als zuvor (blau). Das zielstrebigere Spiel der letzten elf Begegnungen brachte denn auch mehr Punkte (26), als die 23 Partien zuvor (25). (Quelle: Florian Zenger)

So gesehen ist die Frage, ob Darmstadt im letzten Saisondrittel einfach nur überperformt und vorher unterperformt hat, auch mit einem klaren Jein zu beantworten. Einerseits sprechen die expected Goals in der Schlussphase der Saison tatsächlich für eine Überperformance, andererseits haben sich einige Indikatoren dennoch verbessert (siehe Grafiken). Also: Verbesserung plus Überperformance und vorher ein bisschen Pech, aber auch tatsächliche Probleme. Die Gegentore in der schlechten Phase waren dann zwar in der Entstehung Zufall (siehe bspw. 1:2 gegen Nürnberg), aber an sich schon „verdient“. Die Anzahl der gegnerischen Tore lagen in dieser Phase ungefähr da, wo der xGA-Wert auch lag – also mehr oder minder auf Erwartungswert.

Die Entwicklung der Tore (inkl. expected Goals, xG) und Gegentore (inkl. expected Goals against, xGA). Die Lilien wurden besser, agierten vor dem gegnerischen Tor aber am Ende auch sehr effizient. (Quelle: Flo Zenger)

In der Saison – Personal
Wer waren die drei Top Spieler? An Dursun kommt man in der Auflistung nicht vorbei, natürlich. Dabei spielen selbstverständlich die Tore eine ganz gewaltige Rolle, aber auch sein Part als aggressiver Anläufer und jemand der in die Duelle geht, darf nicht unterschätzt werden. Dazu hat er im Vergleich zu den Vorjahren sein Passspiel in den gefährlichen Zonen noch mal deutlich verbessert. Selbst wenn die sieben Assists teilweise aus herausgeholten Elfmetern bestanden, ist da schon nochmal was passiert. Derjenige, der für mich Darmstadt gerade in der schlechten Phase vor dem völligen Abrutschen bewahrt hat, ist Tobias Kempe. Der hat in der am Ende guten Phase zwar deutlich weniger gespielt (und ist damit wahrscheinlich auch ein Opfer der Formationsumstellung), aber seine Standards haben vorher für viel Gefahr gesorgt. Der Dritte im Bunde ist dann Victor Pálsson, der defensiv viel abgesichert und stabilisiert hat. Er hat ein bisschen gebraucht nach der Verletzung wieder reinzukommen, aber defensiv hat er dann, gerade als Sechser im 4-2-3-1 mit seinem Kopfballspiel – kein defensiver Mittelfeldspieler in der Liga hat sich in so viele Kopfballduelle geworfen wie der isländische Nationalspieler und nur Fröde (KSC) sowie Bodzek (Düsseldorf) haben mehr Kopfballduelle gewonnen – und auch seiner Antizipation (abgefangene Bälle in der Defensive (Rang 19 unter allen Spielern ligaweit), unterbundene Pässe (Rang 21)) sehr geholfen.
Und wer hat sich am meisten verbessert? Im Vergleich zur Vorsaison fiele meine Wahl bei den Verbesserungen auf Matthias Honsak. Nicht nur wegen des erhöhten Outputs in Sachen Tore und Assists, sondern auch weil sein Spiel noch einmal an Direktheit gewonnen hat, weil er mehr ins Dribbling geht und mehr Dribblings für sich entscheidet. Hinzu kommt, dass er wesentlich mehr Key Passes, also Pässe, die zu Abschlüssen führen, spielt als im Vorjahr und damit fast dreimal so viele Chancen kreiert im Vergleich zum Vorjahr. Er profitiert wahrscheinlich enorm davon, dass das Spiel in den letzten Wochen direkter geworden ist.
Gab’s auch Enttäuschungen? Da würde ich mich am ehesten für Fabian Schnellhardt entscheiden. Dabei ist es nicht unbedingt so, dass er eine viel schlechtere Saison als im Vorjahr spielt, er ist nur in der Entwicklung stagniert. Auch wenn ich kein Freund davon bin, Korrelationen zu sehr mit Einzelspielern zu verbinden, ist doch auffällig, dass die Phase des Aufschwungs mit weniger Einsatzzeit für ihn einhergeht und – bis auf Kiel – die Spiele mit ihm in der Startelf in dieser Phase nicht gewonnen wurden. Schnellhardt hätte durchaus die Anlagen ein Spiel zu lenken und er spielt ab und zu gefährliche Bälle, aber dem Spiel den Stempel aufdrücken, das schafft er einfach nicht. Dazu kommt, dass er in dieser Saison in der Defensivarbeit schwächer war als in den Vorjahren – weniger Duelle und weniger gewonnen.

Embed from Getty Images

Nach der Saison
Die Gretchenfrage ist, wie Darmstadt Serdar Dursun ersetzt. Mit ihm stellte Darmstadt in der Schlussphase der Saison 2020/21 die stärkste Offensive, zeichnete sich durch Abschlussstärke und Tempo im Vorwärtsgang aus. Der Ersatz für den Topstürmer ist – das ist allerdings kein Hexenwerk das zu erkennen – die Schlüsselpersonalie im Sommer. Die Frage ist, ob man einen so abschlussstarken Stürmer, der zugleich ein gewisses Auge für die Mitspieler hat, überhaupt finden kann. Und wo man sucht. Wählt man den Weg einen starken Spieler aus einer kleineren europäischen Liga zu holen, man könnte da an beispielsweise David Strelec (Slovan Bratislava) oder Mahir Emreli (Qarabag Agdam) denken. Oder versucht man einen inländischen ballsicheren Spieler zu verpflichten, der keine hohe Quote hat, dafür aber sicher keine Adaptionsprobleme mit sich bringt zu verpflichten. Hier böten sich mit auslaufenden Verträgen beispielsweise Dennis Eckert Ayensa (Ingolstadt) oder tatsächlich Kevin Behrens (Sandhausen) an.
Die bisherigen Neuzugänge deuten tatsächlich in eine gewisse Richtung. Karic und Müller sind beides spielstarke Verteidiger, die es schaffen den Ball in gefährliche Räume zu spielen und gerade im Kurzpassspiel wirklich sehr starke Spieler sind. In der Hinsicht ist Müller ein klares Upgrade im Vergleich zu Höhn. Ob das bedeutet, dass Anfang insgesamt wieder zum Ballbesitzfußball zurückwill, ist natürlich aus der Ferne nur bedingt zu beantworten. Aber auch Morten Behrens, der von Magdeburg kommt und einer der besten Drittligakeeper der abgelaufenen Saison ist, fällt in die Kategorie „kann Fußball spielen“.
Die weitere Kaderplanung hängt dann sicher von den weiteren Abgängen ab. Ein Verlust von Pálsson wäre womöglich schwer zu kompensieren, erst recht, wenn es mit einem Abgang von Rapp verbunden wäre, die neu gefundene defensive Stabilität im Mittelfeld müsste dann erst wieder erlangt werden.

Ein Gedanke zu “Die Lilien-Saison 2020/21: Eine Analyse

  1. Pingback: Einwurf: Und raus bist du | Kickschuh.Blog

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.