Was … für … ein … Theater! Markus Anfangs Amtszeit bei den Lilien ist – mit ordentlich Nebengeräuschen – schon wieder Geschichte. Nach der Transferposse der letzten 24 Stunden werden ihm nicht allzuviele Tränen nachgeweint werden. Sein Jahr bei den Lilien wird als eine Saison mit zwei Gesichtern in Erinnerung bleiben. Eine lange Zeit enttäuschende Spielzeit mündete nach einem fulminanten Schlussspurt auf Platz 7. So richtig warm wurden er und der SVD (Fans inklusive) nicht. Es drängt sich nach dem von ihm forcierten Abgang zu Werder der Eindruck auf, als habe er die erstbeste Gelegenheit genutzt, um sich aus dem Staub zu machen, während die 98er mit ihm ein langfristiges Projekt vorantreiben wollten und nun umplanen müssen.
Rückblick: Im Februar 2020 gaben die Lilien bekannt, sich zum Saisonende von Coach Dimitrios Grammozis zu trennen. Beide Seiten hatten sich über die Vertragsverlängerung entzweit. Grammozis wollte zwei Jahre, der SVD bot ihm eines. So richtig groß war das Vertrauen in den Übungsleiter am Bölle wohl nicht. Trotz zuvor souverän erreichtem Klassenerhalt und trotz einer gemeisterten schwierigen Situation in der Folgesaison, in der die 98er zwischenzeitlich auf Platz 17 abgerutscht waren, zum Zeitpunkt der gescheiterten Verhandlungen aber schon wieder an Position 7 rangierten.
Die Wunschlösung
Stattdessen kam im Sommer 2020 die Wunschlösung auf die Trainerbank: Markus Anfang. Denn: Er bekam den von Grammozis geforderten Zweijahresvertrag. Ein Jahr zuvor war der gebürtige Rheinländer in Köln entlassen worden. Zu belastet soll dort das Verhältnis zu Armin Veh gewesen sein. Zudem war das Binnenverhältnis zum Team wohl nicht ganz unkompliziert. (s. mein Insider-Interview mit Thomas von effzeh.com) Anfang hatte zuvor in Kiel starke Arbeit geleistet und war zum Zeitpunkt seiner Entlassung in Köln bereits so gut wie aufgestiegen. Seine sportlichen Kennzahlen, sie stimmten. Ihn ans Bölle lotsen zu können, das war schon ein kleiner Coup. Maßgeblich zurückzuführen war sie auf den Sportlichen Leiter des SVD, Carsten Wehlmann, der Anfang noch aus gemeinsamen Kieler Zeiten kannte. Grammozis hatte die Lilien defensiv stabilisiert und in seinen letzten Monaten auch im Offensivspiel verbessert. Da schien ein Markus Anfang, mit seiner proaktiven Herangehensweise an ein Spiel, der nächste logische Schritt in der Weiterentwicklung der 98er zu sein. Das unterstreicht auch Sportjournalist Florian in seiner Saisonanalyse der Lilien, die er für mich unlängst gezogen hat. Die Lilien, sie sollten sich als Klub erweisen, der sich stetig weiterentwickelt, der sich in der Tabelle nach oben orientiert. Die Lilien, sie wollten endlich planvoll agieren und nicht getrieben werden. Und sie wollten fußballerisch das Heft in die Hand nehmen, nicht mehr abwarten.
Ein langanhaltender Fehlstart
Die Saison 2020/21 begann unter Markus Anfang allerdings durchwachsen bis schlecht. Er ließ sein Team Fußball spielen, trieb den Ballbesitz und die Passquote nach oben, allerdings auf Kosten der defensiven Stabilität. Das, was sich das Team vorne erarbeitete (und zu oft ausließ), riss sie sich hinten (durchaus slapstickartig) wieder ein. Die Anzahl der erwartbaren Tore und Gegentore (xG vs. xGA) hielt sich jedenfalls die Waage. Anfangs‘ Team fehlte es an der notwendigen Ballance … und an den Punkten. Als der SVD Anfang März nach einer erschreckend schwachen zweiten Halbzeit mit 0:1 gegen den KSC verlor, da läuteten sämtliche Alarmglocken; bei den Fans, im Verein (der in Coronazeiten einen Stadionumbau zu stemmen hat) und bei Markus Anfang. Nicht wenige sahen ihn als Trainer auf Abruf. Zu Saisonbeginn hatte Anfang drei Säulen in seiner Arbeit ausgemacht: gut Fußball spielen, Spieler weiterentwickeln, Ergebnisse produzieren. Dieser Ansatz, er musste vor drei Monaten mit dieser Mannnschaft als gescheitert betrachtet werden. Denn es wurde immer weniger guter Fußball gespielt, die Verunsicherung war immer wieder mit Händen zu greifen und die Ergebnisse, sie stimmten erst recht nicht. Nach besagtem KSC-Spiel hatten die 98er mehr als die Hälfte ihrer Spiele verloren (12 von 23), 40 Gegentore angehäuft und auf Rang 14 nur noch vier Punkte Vorsprung auf die Abstiegszone.
Der Turnaround
Was dann folgte, war der so kaum für möglich gehaltene, aber bitter notwendige Turnaround. 26 Punkte aus elf Spielen reichten noch zum Sprung auf Platz 7. Wie das? Nun, Anfang hatte vor der Auswärtspartie in Paderborn, gegen die der SVD in der Vorrunde mit 0:4 unter die Räder gekommen war, angekündigt, im Abstiegskampf die Defensivarbeit zu schärfen. Alles müsse gnadenlos wegverteidigt werden. Es gelte kompakt und gut zu stehen, aggressiv zu verteidigen. Er wollte dies nicht als Abkehr von seinem ballbesitzorientierten Fußball verstanden wissen, aber mit dem Aufbieten einer Doppelsechs, wie sie in Darmstadt seit langem praktiziert worden war, verhalf er der Defensive zur erwünschten Kompaktheit. Wie schon im Dezember gegen Fürth mit einer Dreier-/Fünferkette, die er dann jedoch wieder kassierte. Markus Anfang musste also einsehen, dass er seinen Spielern mehr entgegenkommen musste, als er ursprünglich wollte. Die Folge war ein wildes, aber hochverdientes 3:2 in Paderborn. Die Defensive verdiente sich nach und nach wieder ihren Namen. Der SVD stand tiefer, überließ den Kontrahenten vermehrt den Ball und schaltete nach Ballgewinn schneller um. Das Spiel wurde vertikaler. Die Querpässe nahmen ab. Matthias Honsak als schneller Außen profitierte sichtbar von der Umstellung. Und natürlich Serdar Dursun, der im Schlussspurt die Liga in Schutt und Asche ballerte.
Die (unbefriedigenden) Transferperioden
Doch wieso kamen die Lilien lange so gar nicht in die Spur? Anfang hatte im letzten Sommer zu verstehen gegeben, dass er den Kader nicht nach seinem Gusto hatte ergänzen können. Im Winter legte der Klub deshalb mit Thomas Isherwood, Christian Clemens und Samuele Campo nach. Letztlich durften in der Saison 2020/21 jedoch lediglich Verteidiger Lars Lukas Mai und Clemens als Spieler gelten, die eine Rolle spielten. Adrian Stanilewicz, Campo und Isherwood (allerdings verletzungsbedingt) spielten gar keine, Aaron Seydel bis zu seiner Verletzung nur bedingt. Das heißt, Anfang musste mehr oder minder mit dem Kader der Vorsaison auskommen. Jedoch ohne Dario Dumic, Yannick Stark und im Saisonverlauf auch Seung-ho Paik. Insofern stellte das Team eher ein Downgrade dar. In Corona-Zeiten durfte Anfang das aber nicht verwundern. Auch andernorts wurde der Gürtel enger geschnallt. Und er hatte immer noch Spieler im Kader, die ihr Potenzial nicht ausgeschöpft hatten. So durfte er zeigen, dass er die Säule „Spieler weiterentwickeln“ beherrscht. Und tatsächlich: Tim Skarke, Marvin Mehlem und letztlich auch Mathias Honsak machten im Saisonverlauf einen Schritt nach vorne.
Mangelnde Perspektive?
Nun durfte man davon ausgehen, dass Anfang in seiner zweiten Saison am Bölle mehr Einfluss auf die Kadergestaltung würde nehmen können. Die bisherigen Neuzugänge lassen durchaus eine einheitliche Handschrift erkennen: Stichwort gutes Pass- bzw. Aufbauspiel. Dass auf der anderen Seite mit Serdar Dursun und Victor Pálsson zwei Fixpunkte sowie mit Nicolai Rapp, Immanuel Höhn und Lars Lukas Mai drei Innenverteidiger gehen, schmeckte Anfang sicher nicht. Seine Neigung, bei einem verlockenden Angebot zu gehen, dürfte angesichts der herausfordernden Perspektiven am Bölle jedenfalls ausgeprägt gewesen sein. Anfang war offenbar nicht mehr bereit, Spieler „nur“ weiterentwickeln zu wollen. Damit lässt er die Lilien, die im März noch zu ihm gehalten hatten, im Stich. Getreu dem Motto: „Und raus bist du“, wendete er sich von den 98ern ab. Das ist legitim, keine Frage. Es lässt ihn dennoch in einem schlechten Licht erscheinen.
Bremen nicht minder herausfordernd
Dabei findet er in Bremen eine nicht minder große Baustelle vor. Der Klub, der in den Nullerjahren Titel einheimste, der die Nummer 2 in Deutschland war, Stammgast in der Champions League inklusive, ist mächtig heruntergewirtschaftet. Das Renomee an der Weser ist zweifelsohne größer als am Bölle. Ob allerdings ein Verein der richtige Anlaufpunkt für Markus Anfang ist, der zum Aufstieg verdammt ist und dem der spielerische Ansatz in den letzten Jahren immer mehr abhanden gekommen ist? Zweifel sind angebracht. Auch wenn der Kader der Bremer immer noch ordentliches Potenzial abwerfen wird, Anfang wird sein Team nicht ähnlich überfrachten dürfen wie die Lilien im letzten Jahr. Zudem wird er gefordert sein, Spieler derart weiterzuentwickeln, dass der stolze Klub endlich einmal wieder Ablösesummen generiert. Denn die für Anfang von Werder gebotenen 200.000 Euro (in Ratenzahlung!), sie sollten ihm selbst deutlich zeigen, dass im Portemonnaie an der Weser ziemlich Ebbe herrscht.
Der nächste Umbruch
Derweil müssen die Verantwortlichen am Bölle einen ordentlichen – und so nicht absehbaren – Umbruch stemmen. Und das in einer überaus namhaft besetzten 2. Bundesliga. Da wäre es schon gut gewesen, wenn wenigstens der Trainer an Bord geblieben wäre, der das Unterhaus aus dem Effeff kennt und dem man zutrauen durfte, aus der ersten holprigen Saison die richtigen Schlüsse zu ziehen. Nun müssen sie mal wieder einen neuen Trainer aus dem Hut zaubern! So wie nahezu jedes Jahr. Kontinuität sieht anders aus. Wer konnte auch damit rechnen, dass die Wunschlösung – die noch im März angesichts ausbleibender Ergebnisse angezählt wurde – dem erstbesten Flirt erliegt? Die Trainersuche kommt zur Unzeit. Die Kaderplanung könnte schon weiter sein. Doch wer will jetzt zusagen, wenn der Coach als Fixpunkt erstmal weg ist. Zum Trainingsauftakt steht bislang erst ein gutes Dutzend (gesunder) Profis bereit. Die Lilien sind gefordert, einen Trainer zu verpflichten, der den eingeschlagenen Weg fortsetzt und nicht gleich wieder kassiert. Die Basis ist und bleibt eine sattelfeste Defensive, das haben die letzten Monate gezeigt. Doch diese ist arg ausgedünnt und der Sturm kaum mehr als solcher erkennbar. Es stimmt aktuell im Kader also weder hinten noch vorne. Sagte man früher am Bölle gerne: „In Schuster we trust“, der Trainer und Manager in Personalunion war, so heißt es nun: „In Wehlmann we have to trust.“
Die Liga wird anspruchsvoller, der Klassenerhalt kein Selbstläufer, die Fernsehgelder weniger. Wie wollen sich die Lilien aufstellen? Mit einem Coach, der die 2. Liga kennt? So wie der HSV, der auf Tim Walter setzt. Oder mit einem Coach, der die Lilien als Chance versteht? So wie Düsseldorf, die sich den Trainer von Freiburg II angelten. Es bleibt spannend. Es besteht – wie immer – die Gefahr, sich zu verzocken. Die aktuelle Situation kann aber auch eine Chance sein, wie einer unserer Mitstreiter im Lilien-Podcast „Hoch & weit“ nicht müde wird bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu betonen. Hoffen, wir, dass die Chance größer ist, als die Gefahr! Auf einen Markus Anfang, der mit Werder verhandelt und handelseinig wird, bevor die Lilien überhaupt ins Spiel kommen, auf einen solchen kann der Klub jedenfalls liebend gerne verzichten. Getreu dem Motto: „Und raus bist du!“
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