Der Bundesligafußball ruht nun schon seit mehr als anderthalb Monaten. Hätten gestern die DFL und die Klubs nicht ihr „Ausstiegsszenario“ aus dem Corona-Stillstand vermeldet, dann gäbe es rein gar nichts zu vermelden. Nun gut, fast nichts. Die Lilien haben immerhin auf der Trainerbank Nägel mit Köpfen gemacht. Nachdem Dimitrios Grammozis die Verlängerung seines Kontrakts um ein Jahr ausschlug, bot der SVD Markus Anfang einfach mal zwei. Das hat schon ein Gschmäckle. Wie dem auch sei, Anfang hatte bei Holstein Kiel für Furore gesorgt und Köln an die Schwelle zur Bundesliga geführt, die der FC dann ohne hin überschritt. Da liegt es nahe, sich bei Insidern in Köln und Kiel über Anfang zu informieren. Also flugs Thomas von effzeh.com und Pike vom Holstein-Podcast 1912FM befragt. Nehmt euch ein Getränk, es wird ausführlich:
Pike über Markus Anfang bei der KSV Holstein Kiel (2016-2018):
Moin Pike. Im August 2016 folgte Markus Anfang bei der KSV auf Karsten Neitzel, der zuvor über drei Jahre Coach war. Anfang war gerade Deutscher Meister mit den U17-Junioren von Bayer Leverkusen geworden. Wie habt ihr damals in eurem Podcast-Team auf diese eher überraschende Personalie reagiert?
Wir kannten Markus Anfang überhaupt nicht und waren natürlich erstmal gespannt. Seine Leistungen als Jugendtrainer klangen überzeugend. Aber er hatte zunächst einen schweren Stand, denn Neitzel war beliebt bei den Fans. Wir haben ihm schon eine Zeit lang hinterher getrauert, so dass man sich gar nicht so richtig auf Markus Anfang eingestellt oder vorbereitet hat. Letztlich war es aber ein fließender Übergang.
Anfang musste mit einem Kader arbeiten, den sein Vorgänger mit zusammengestellt hatte. Wie hat er diese Situation gemeistert?
Er hat es super gemacht. Allerdings ist festzuhalten, dass der Kader wirklich sehr sehr gut zusammengestellt wurde, woran Karsten Neitzel einen großen Anteil hatte. Spieler wie Drexler, Schindler, Mühling, Czichos und Co. waren ja schon alle an Board. Anfang hat ein intaktes und gutes Team übernommem, dennoch er hat fast jeden Spieler noch besser gemacht und vorangetrieben.
Nach dem Aufstieg hat er mit ihnen die 2. Bundesliga im Sturm genommen. Marvin Ducksch wurde gar Torschützenkönig und erst in der Relegation gegen Wolfsburg war Endstation. Wie würdet ihr den Anfang-Fußball beschreiben?
Sensationell. Ich glaube das trifft es wirklich. Gefühlt war jedes Spiel eine kleine Sensation und extrem torreich. Unser erstes Auswärtsspiel bei Union Berlin endete 4:3 für Union, in Heidenheim gewannen wir 5:3. Zuhause hieß es 5:0 gegen Duisburg und gegen Braunschweig 6:2. Man konnte es als Kieler kaum fassen, was Holstein für einen Fußball gespielt hat.
Das wirkte sich natürlich auf das Torverhältnis aus. Schon in der 3. Liga wart ihr unter Anfang in dieser Hinsicht spitze. Dennoch hat Holstein unter ihm in beiden Ligen immer mit am wenigsten verloren (nur 13 (!) der 72 Partien). Lässt sich daraus ableiten, dass er dem Team eine gute Ballance und Disziplin einimpfen konnte?
Ich denke schon. Markus Anfang hat es geschafft, eine unglaubliche Einheit aus der Mannschaft zu formen. Er wusste stets zu motivieren und wollte zum Beispiel auch nie etwas vom „Ziel Klassenerhalt“ hören. Anfang sagte immer, damit wolle man etwas verhindern, statt zu gewinnen und das widerstrebte ihm. Die Mannschaft hat nie den Glauben verloren, ein Spiel gewinnen zu können.
Auf welche Spielertypen setzte er bei euch bevorzugt?
Das ist schwer zu sagen. Er brauchte einen Innenverteidiger der gut mitspielen kann. Für die Offensive brauchte er ein Spielmacher, der Box-to-Box spielt. Dafür hatte er mit Drexler den perfekten Spieler. Die Außenspieler wurden extrem gefordert und mussten viel arbeiten. Ich würde also sagen: Ein spielstarken Innenverteidiger, einen kreativen Box-to-Box Spieler im Zentrum und schnelle Außenspieler, die starke Flanken schlagen können.
Die Lilien betonten vor dieser Saison, sie hätten bei ihren Neuzugängen einen Schwerpunkt auf entwicklungsfähige Spieler gelegt. Ist Anfang imstande, Spieler weiterzuentwickeln?
Kurz und knapp – ja. Die meisten Spieler blühten unter ihm auf. Anfang hatte viele Spieler bei denen Holstein „die letzte Chance“ war oder die es wo anders nicht gepackt hatten. Aus fast jedem machte er einen besseren Spieler. Czichos, Drexler, Schindler und Ducksch spielen oder spielten alle nach der Zusammenarbeit mit ihm in der Bundesliga. Natürlich auch, weil Anfang einige nach Köln holte, aber Czichos und Drexler machen da heute ja einen ordentlichen Job. Ducksch hat jedoch nirgends außer bei Holstein Kiel funktioniert. Auch ein Lewerenz kam nie wieder an seine Leistungen unter Markus Anfang ran. Ich glaube er hat jeden Spieler bei Holstein an seine Grenzen getrieben.
Was machte ihn für euch bei Holstein rückbetrachtend so erfolgreich? Sein Teamhandling? Sein Spielstil? Sein In-Game-Coaching?
Im Großen und Ganzen war es wohl sein Spielstil. Es war erfrischend, neu, unbekannt. Viele Mannschaften wirkten überrascht über dieses schnelle Umschaltspiel.
Carsten Wehlmann und Markus Anfang arbeiteten zeitgleich bei Holstein Kiel. Weißt Du etwas darüber, wie stark sie seinerzeit zusammenarbeiteten bzw. harmonierten?
Darüber ist mir leider nichts bekannt. Holstein arbeitet intern relativ verschlossen, da bekommt man kein Gossip mit (oder es gibt ihn einfach nicht 🙂 ).
Anfang kam aus dem Nachwuchsfußball zu euch. Hatte er auch das NLZ im Blick und führte er junge Spieler aus dem eigenen Nachwuchs ans Profiteam heran?
Mit Arne Sicker hatte ein Jugendspieler ein paar Einsätze unter Anfang. Aber einen Spieler aus dem Nachwuchs hat er nicht etabliert. Da hat er sich schon auf das funktionierende Team verlassen.
Letzte Frage, welchen Eindruck hast Du von Markus Anfang in den zwei Jahren bei euch gewonnen?
Wenn da nicht die Sache mit Dominick Drexler und dessen öminösen Wechsel nach Köln gewesen wäre, dann könnte ich kaum etwas Negatives über Anfang sagen. Ich mochte ihn sehr, er war positiv, sympatisch, nahbar und doch professionell. Ich freue mich jedenfalls Markus Anfang jetzt in Darmstadt zu sehen und glaube, dass er durchaus erfolgreich sein wird.
Ich bin gespannt. Besten Dank, Pike.
Thomas über Markus Anfang beim 1. FC Köln (2018/19)
Thomas, wenn bei effzeh.com heute der Name Markus Anfang fällt, wie wird dann über ihn gesprochen?
Wenn Anfang noch zur Sprache kommt bei uns, dann sicherlich als Teil einer verkorksten Saison. Das klingt ziemlich anmaßend, wenn man bedenkt, dass der 1. FC Köln 2018/19 in die Bundesliga zurückgekehrt ist. Dennoch war es eine Spielzeit voller Probleme, die erst unter Markus Gisdol bewältigt oder aus dem Weg geräumt werden konnten. Im Rückblick muss gesagt werden: Markus Anfangs Scheitern war ein Scheitern mit Ansage, an dem er vielleicht sogar die wenigste Schuld trägt.
Als Anfang nach der Niederlage am 31. Spieltag gegen Darmstadt seinen Hut nehmen musste, da war der Aufstieg nur noch eine Formsache. Warum hat es Deines Erachtens zwischen ihm und dem FC sportlich nicht gepasst?
Für mich stechen dabei zwei Punkte heraus: Zum einen lag die Mannschaft nach dem Abstieg am Boden. Ein Jahr zuvor waren sie die Helden von Köln, die den FC nach 25 Jahren zurück in den Europapokal geführt hatten. Darauf folgte ein fast beispielloser Absturz, der einiges an Dramatik zu bieten hatte. Aus dieser Talsohle in diesem Umfeld ein Team herauszuführen, umzukrempeln und mit einer neuen, offensiven Spielidee zu formen war eine Herkulesaufgabe. Von Beginn an war der Druck immens – von der Vereinsführung, die mit ungeschickten Aussagen die Fallhöhe noch vergrößerte, bis hin zum Umfeld, das den Aufstieg als selbstverständlich erachtete. Der Kader war prominent besetzt, passte allerdings nur unzureichend zu Anfangs Spielphilosophie. Mit den üblichen kölschen Fallstricken und den Querelen in der Führungsetage war das eine extrem schwer zu managende Melange.
Also ist er auch an den Kölner Verhältnissen gescheitert? Sein Nachfolger Achim Beierlorzer konnte sich schließlich ebenfalls nicht lange halten.
Ja, das kann man so sagen. Wobei die Betonung dabei auf dem „auch“ liegen sollte. Alle von mir genannten Punkte haben den Job für Anfang sicherlich nicht leichter gemacht, aber er hat hier auch schlichtweg nicht abgeliefert. Er hat zusammen mit seinem Trainerteam die Kabine recht schnell verloren, was sich angesichts der komplexen Ausgangslage verheerend ausgewirkt hat. Er konnte öffentlich nie den Eindruck verwischen, Armin Veh habe ihn zur erfolgreichen Systemumstellung auf zwei Stürmer gedrängt. Und er wurde, obwohl er ja gebürtiger Kölner ist, nie wirklich warm mit dem Club und seinen Besonderheiten. Und trotzdem: Dass Anfang es beim FC nicht gepackt, ist nur zu gewissen Teilen seine Schuld.
Das klingt so, als ob er dem Team seine Handschrift in dem knappen Jahr nicht erfolgreich vermitteln konnte?
Das stimmt. Dass er das nur unzureichend geschafft hat, war eines seiner größten Probleme, das sich bis in die aktuelle Saison ausgewirkt hat. Der FC hat unter ihm sehr ballbesitzorientiert gespielt, was angesichts der Ausgangslage in der 2. Bundesliga auch erwartbar war. Es war jedoch keine Spielweise, die für die Zeit nach dem Aufstieg geeignet zu sein schien.
Würdest Du ihm rückbetrachtend dennoch etwas zugutehalten können?
Wirklich zugutehalten kann ich ihm in seiner kurzen Amtszeit leider wenig: Zu bleiern waren diese Monate zu großen Teilen, zu wenig nachhaltig. Und Anfang wurde dafür, wie beim FC üblich, extrem gut bezahlt.
Wie hat sich für dich der Anfang-Fußball dargestellt?
Die Anfang’sche Spielphilosophie basiert auf einem hohem Ballbesitzanteil mit vielen kurzen Pässen, gerade im letzten Drittel. Dort sollen die Offensivspieler durch viele Rochaden variabel agieren. Es wird vermehrt auf die spielerische Lösung gesetzt, auch beim Aufbau aus den hinteren Reihen. Das ist mitunter spektakulär, aber eben auch riskant. Gerade beim FC mischte er die Spielentwicklung mitunter mit langen Schlägen die Linie herunter, um das Pressing der Gegner zu überspielen. Angesichts der individuellen Qualität in der Kölner Offensive gab es viele Momente, in denen sich der FC so durchsetzen konnte. Allerdings blieb die Defensive ein stetes Risiko, da im Spiel nach vorne viel Risiko gegangen wird.
Wie wirkte er ansonsten auf dich? Etwa gegenüber den Fans oder den Medien?
Auf mich wirkte Anfang irgendwie bemüht fremdelnd. Er ist ein kölscher Jung, der aber offensichtlich diesem Image nicht entsprechen wollte oder konnte. So war die Beziehung zwischen ihm und dem Club als Gesamten immer recht emotionslos. Gegenüber den Medien kam er inhaltlich wie ein Trainerroboter mit den erwartbaren Phrasen und Floskeln aus den Lehrgängen herüber. Das wirkte häufig sehr hölzern, unbeholfen und einstudiert, so dass Anfang auch über diese Schiene wenig Anklang fand. Zudem wirkte er gegenüber Kritik wenig verständnisvoll, vielmehr ablehnend beziehungsweise mitunter sogar überheblich.
Anfang übernimmt zur nächsten Spielzeit die Lilien. Hier ist das Umfeld ein ganz anderes als ihn Köln und wesentlich familiärer. Traust Du ihm zu, wieder an alte Kieler Zeiten anknüpfen zu können?
Definitiv. Die Aufgabe ist bei weitem nicht so kompliziert wie das Minenfeld Köln. Die „Lilien“ sind ein etablierter Zweitligist mit einigem Potenzial und einem ruhigen, geordneten Umfeld. Die Schwierigkeit, die ich sehe: Wie sehr entspricht der Kader der Spielidee Anfangs? Darmstadt war in der jüngeren Vergangenheit eher ein von defensiver Grundordnung geprägtes Team. Wenn er es schafft, der Mannschaft schnell seine Philosophie zu vermitteln, dann dürft ihr Euch zumindest auf spektakulären Erlebnisfußball freuen.
Anfang bringt mit Florian Junge seinen Co-Trainer aus Kölner Tagen mit. Lässt sich über ihn etwas sagen, oder blieb er der unauffällige Assistent im Hintergrund?
Oh, Anfang bringt nicht Tom Cichon mit ans Böllenfalltor? Das kommt überraschend. Oder eben auch nicht, war er doch dem Vernehmen nach ein Problem zwischen Mannschaft und Trainerteam. Junge war dagegen eher der ruhige Assistent im Hintergrund, wurde auch zunächst für das „Spielersatztraining“ an Bord geholt. Großartig in den Blickpunkt hat er sich nicht gearbeitet, was grundsätzlich nicht schlecht sein muss.
Thomas, ein großes Dankeschön für die ausführlichen Einblicke zu Markus Anfangs‘ Zeit in Köln.
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