Schwer einverstanden

Sie war verrückt, die zurückliegende Zweitligasaison. Zuallererst weil die Corona-Pandemie den Fußball von März bis Mitte Mai in eine Zwangspause schickte und anschließend zu Geisterspielen verdammte. Und dann ließ der SV Darmstadt 98 einer unbefriedigenden ersten, eine herausragende zweite Halbserie folgen. Am Ende steht Tabellenplatz 5, der mit einer spielerischen Weiterentwicklung einherging. So bleibt festzuhalten: Die 98er sind in sportlicher Hinsicht einen kräftigen Schritt in die richtige Richtung gegangen. Damit darf man schwer einverstanden sein.

Das gab es schon länger nicht mehr. Die Lilien beendeten die gestern zu Ende gegangene Saison mit dem Trainer, mit dem sie auch in die Spielzeit gegangen waren. Zuletzt war dies 2015/16 der Fall. Damals saß Dirk Schuster felsenfest auf dem Trainerstuhl. Etwas, das sich von Dimitrios Grammozis nicht unbedingt sagen ließ. Als der SVD im Oktober auf dem vorletzten Tabellenplatz angelangt war, da schien es nur eine Frage der Zeit, wann die marktüblichen Mechanismen greifen würden. Doch zwei Arbeitssiege gegen St. Pauli und Aue verschafften Grammozis Luft. Und zwei engagierte Leistungen gegen den VfB und den HSV sorgten zur Winterpause dafür, dass keine ernsthaften Diskussionen geführt werden mussten. Was dann Mitte Februar mit dem turbulenten 3:2 bei Dynamo Dresden begann, sollte die 98er richtig in die obere Tabellenhälfte katapultieren.

Den Schalter umgelegt
Verlief die Hinrunde noch zäh und insbesondere in den Offensivleistungen halbgar, so gestalteten sich die Auftritte in der zweiten Halbserie deutlich zielgerichteter, flüssiger und erfolgreicher. Es war so, als ob ein Schalter umgelegt worden wäre. Exemplarisch für den Wandel stehen die beiden Auftritte gegen Wehen. Das Hinspiel bot reichlich Kampf und Krampf. Als Zuschauer wurde man den Eindruck nicht los, die 98er würden sich mit dem Punktgewinn irgendwie zufriedengeben. Vor Wochenfrist hingegen war das Team mit nur einem Punktgewinn ganz und gar nicht einverstanden. Nach frühem Rückstand legte Grammozis‘ Team den Vorwärtsgang ein und ließ dem überfälligen Ausgleich das zweite und dritte Tor folgen. Am Ende stand ein hochverdienter Erfolg der spielerisch reiferen Mannschaft, die wie selbstverständlich Abschlüsse kreierte. Das stimmigere Angriffsspiel verdeutlicht die Torausbeute. Hieß es während der ersten 17 Spieltage magere 18 Tore zu bejubeln, so folgten in der Rückrunde 30 Treffer. Nur der VfB und Hannover trafen in diesem Zeitraum häufiger. Im Verbund mit einer der stabilsten Defensivabteilungen hieß die klar zweitbeste Rückrundenmannschaft: SV Darmstadt 98.

Spielzeit der zwei Gesichter
Doch wie kam diese Spielzeit der zwei Gesichter zustande? Grammozis verkündete unlängst im Interview mit der FAZ, dass er in der Hinrunde sein Team defensiv stabilisieren wollte. Allen voran das 0:4 am dritten Spieltag in Osnabrück hatte Spuren hinterlassen. Die hochverdiente Packung an der Bremer Brücke hatte sich zuvor nicht abgezeichnet. Was dann folgte, war ein ultrapassives 0:0 am Bölle gegen Dresden. Die Absicht bloß kein Gegentor zu fangen und mit einem Punkt Vorlieb zu nehmen, war mit Händen zu greifen. Damals wirkte dies wie eine Überreaktion. Die Verunsicherung blieb dem Team in den Klamotten hängen. Es folgten fünf Spiele ohne Sieg, in denen die Lilien wieder etwas aktiver am Spielgeschehen teilnahmen, ohne zu überzeugen. Insofern waren die darauffolgenden knappen 1:0-Erfolge gegen St. Pauli und Aue Gold wert. Die restlichen Spiele bis zum Jahresende fielen unter das Prädikat engagiert und – nach einem völlig ernüchterndem 1:3 in Fürth – auch defensiv stabiler. Gerade im gegnerischen Drittel gerieten die Darbietungen aber weiterhin nur mäßig überzeugend.

Der Knopf geht auf
Das erste Spiel nach der Winterpause in Kiel machte wenig Hoffnung auf Besserung. Die Lilien durften heilfroh sein, dass gegen überlegene Gastgeber irgendwie der Ausgleich vom Himmel fiel: 1:1 statt 0:3. Doch im Februar ging der Knopf auf. Schon gegen Osnabrück war der Sieg zum Greifen nahe. In den vier darauffolgenden Spielen gab es ihn dann durchweg. Gekrönt von einem 2:0 gegen Heidenheim, das eine spielfreudige, kampfstarke und dominante Lilienelf sah. Die Fans goutierten das immer wieder mit begeisterndem Applaus. Endlich war der Fußball da, den sich alle Lilienfans nach den vielversprechenden Ansätzen der letzten Rückrunde ausgemalt hatten. Endlich war er da, der vermeintliche Grammozis-Fußball. Nur eben mit sechsmonatiger Verspätung.

Restart-Schwung
Selbst die Corona-Zwangspause bremste dessen Jungs nicht aus, sie schloss nur leider die Fans aus. Und das ausgerechnet als die vollendete Gegengerade erstmals die volle Kapelle aufnehmen konnte. Ein Jammer. Sportlich ging der Restart gegen Karlsruhe völlig verdient in die Hose. Holland, Kempe & Co. fanden nie einen Zugang zu diesem ersten Geisterspiel. Die Reaktion folgte allerdings auf dem Fuß. Einem Statement-Resultat (4:0 gegen St. Pauli), folgte ein Statement-Spiel. Was das Team beim 3:1 in Aue ablieferte, war im Gesamtpaket schon sehr, sehr reif. Die Blau-Weißen ließen trotz frühem Rückstand nicht den leisesten Zweifel aufkommen, dass sie das Feld als Sieger verlassen würden. Der Last-Minute-Sieg gegen Hannover war ein weiteres Beispiel für eine überaus intakte Lilienmannschaft. Sie war de facto eine gefestigte Einheit geworden. Weder der frühzeitige Klassenerhalt, noch das Theater um die gescheiterte Vertragsverlängerung von Grammozis ließen das Team in einen Verwaltungsmodus schalten. Der Coach mutierte zu keiner lame duck. Ganz im Gegenteil. Er führte sein Team zur vereinsintern besten Zweitligarückrunde. Chapeau! Da wird jemand auch außerhalb Darmstadts seinen Weg machen.

Die Mannschaft spielt
Erstmals seit dem Erstligaabstieg beendete der SVD eine Saison wieder mit mehr Siegen (13) als Niederlagen (acht). Zur Bilanz der Aufstiegstruppe von 2015 fehlten gar nur zwei Siege. Die Mannschaft zeigte im Saisonverlauf, dass sie spielerische Lösungen im Köcher hat. Sie konnte es sich gar erlauben vier von sieben Elfern zu verschießen. Dabei waren diese noch vor zwei Spielzeiten eine Art Lebensversicherung der 98er gewesen. Die heutige Truppe kann einen gepflegten Ball spielen, was nicht zuletzt an Spielern wie Marvin Mehlem, Tobi Kempe, Seung-ho Paik, Mathias Honsak, Matthias Bader und Fabian Schnellhardt liegt.

Grammozis springt über seinen Schatten
Dabei war Kempe zu Saisonbeginn von Grammozis gar keine Rolle zugeschrieben worden. Wie der Routinier dann allerdings auftrumpfte, nachdem er doch endlich aufgeboten wurde, das war schon großer Sport. So wurde er in dieser Saison zu einem wichtigen Faktor im Lilienspiel, während Grammozis gedankt sei, in dieser Personalie über seinen Schatten gesprungen zu sein. Einem vertraute der Coach hingegen von Beginn an und durchweg: Serdar Dursun. Mit 16 Saisontoren rechtfertigte der Angreifer das Vertrauen. Dabei hatte er bis zu seinem verschossenen Slapstik-Elfmeter gegen Regensburg am 13. Spieltag gerade mal drei Treffer erzielt. Doch wie er die Pfiffe und den Unmut der Fans nach dem Fehlschuss mit zwei Toren im selben Spiel beantwortete, zeigte seine Nervenstärke und letztlich seine Klasse.

Die Neuen
Ihn füttern sollten einige der vor der Saison verpflichteten Spieler, von denen viele das Prädikat schnell, jung und entwicklungsfähig trugen. Während Tim Skarke stark begann und gegen Ende etwas abbaute, deuteten Honsak und Braydon Manu in der Rückrunde an, dass sie dem Flügelspiel Impulse verleihen können. Paik ist im Zentrum ballsicher und technisch versiert. Dario Dumic war die Konstante in der Innenverteidigung mit Torgefahr bei eigenen Standards. Schnellhardt wiederum benötigte mächtig Anlaufzeit, bis er in Darmstadt ankam. Sein Standing war bis zur Corona-Auszeit irritierend gering. Dann aber zeigte er, was er dem Spiel geben kann. Er agiert umsichtig, vorausschauend. Er ist imstande Pässe zu spielen, die im Kader kaum ein anderer wagt, beziehungsweise an den Mann bringt. Auch in schier aussichtsloser Bedrängnis, ist er imstande sich zu befreien. Mit Mehlem nahm dahingegen ein arrivierter Spieler den entgegengesetzten Weg. Bis zur Coronapause immer im Spiel (wenngleich nur selten prägend), war er zuletzt mehrere Spiele infolge überhaupt nicht im Kader. Quo vadis? Wir werden es erfahren.

Die Aussteiger
Bei zwei anderen endet der Weg definitiv: Yannick Stark und Marcel Heller verlassen den SVD. Jeder der beiden hat auf seine Weise das Spiel des SVD über Jahre mitgeprägt. Heller war jedoch in dieser Saison schon nicht mehr der Faktor wie zuvor. Der SVD verfügt nun mit Skarke und Honsak über ebenso schnelle, jüngere und technisch versiertere Spieler. Stark hat in Schnellhardt, Paik und Pálsson auf der Sechserposition beachtliche Konkurrenz. Dennoch hätte man ihm zugetraut, auch weiterhin eine zuverlässige Option von der Bank darzustellen. Schade!

Und nun: Markus Anfang
An Markus Anfang ist es nun, die sichtbar positive Entwicklung fortzusetzen. Noch vor zwei Jahren war er mit Kiel der Shootingstar unter den Zweitligatrainern gewesen. Eine unglückliche Station in Köln lässt seinen Stern nicht mehr ganz so hell leuchten. Er dürfte also entsprechend motiviert sein, seine Qualitäten unter Beweis zu stellen. Nach seiner Vertragsunterschrift am Bölle sprach ich mit zwei „Fan-Insidern“ aus Kiel und Köln, die ihm beide zutrauen bei den 98ern erfolgreich zu arbeiten. Ein – wie ich meine – begründetes Urteil.

Der Kurs unter Grammozis stimmte jedenfalls. Spielerisch und in puncto Moral. Das zeigen diese abschließenden Aspekte:

  • Comeback-Truppe:
    In 19 Partien gerieten die Lilien in Rückstand, holten am Ende aus diesen aber satte 21 Punkte. Absoluter Topwert im Unterhaus. Nur acht Spiele gingen verloren, fünfmal stand am Ende gar ein Sieg.
  • Führung = Punkt(e):
    Lag der SVD mal in Führung, so holte er zumindest einen Punkt. Eine Niederlage kassierte er nach einer Führung nie.
  • Breite des Kaders:
    Insbesondere die Restart-Phase der Saison zeigte, welch qualitative Breite der Kader inzwischen aufweist. Beispielhaft zeigen dies Sebastian Hertner und Braydon Manu, die in der Rückrunde gegen Aue erstmals überhaupt zum Einsatz kamen und sich prompt in die kicker-Elf des Tages spielten. Selbst beim Austausch der Hälfte der Feldspieler innerhalb eines Spiels war kein Bruch zu erkennen. Die Reservisten fügten sich nahtlos ins Spiel ein. An acht Toren waren sie gar direkt beteiligt. Mehr als im gesamten vorherigen Saisonverlauf.
  • Variabilität:
    Wer vom SV Darmstadt 98 sprach, der sprach von einem 4-5-1- bzw. 4-2-3-1-System. In den letzten Wochen sahen wir hingegen auch eine Doppelspitze von Beginn an und nicht mehr nur, wenn gegen Spielende gar nichts anderes mehr übrig blieb. Zudem erlebten wir eine Dreier-/Fünferkette. Das zeigt, dass das Team zukünftig variabler und weniger berechenbar werden könnte.
  • Torerzielung:
    Genau zwei Drittel aller Tore erzielte der SVD aus dem Spiel heraus. Standards helfen im Zweifel noch, sind aber nicht mehr so wichtig, wie sie lange Zeit waren.
  • Pässe:
    Die Statistiken von whoscored.com zeigen, dass die Hoch&Weit-Lilien Geschichte sind. Nur der HSV und der VfB schlagen noch seltener lange Bälle als die 98er. Auch bei den Flanken liegen sie im letzten Drittel. Bei den Kurzpässen rangieren sie in der oberen Tabellenhälfte.
  • Sieghöhe:
    86 Zweitligapartien hatten die 98er nach dem Erstligaabstieg bis zur Winterpause absolviert. Davon gewannen sie nur neun mit mehr als einem Tor Unterschied. Ganz anders in 2020. Von den 16 Partien gewannen sie fünf mit zwei oder mehr Toren Differenz.
  • Abschlüsse:
    Sie waren lange ein pain in the ass. Bis zur Winterpause suchten die Lilien mehrheitlich den Torabschluss von außerhalb des Strafraums. Ein halbes Jahr später hat sich das Bild gedreht. Jetzt erfolgen 56 Prozent der Abschlüsse von innerhalb der „Box“. Die Wahrscheinlichkeit von dort zu treffen liegt nun mal höher. Die Lücke zu den Tormaschinen der Liga ist aber noch nicht geschlossen, sie nehmen mitunter zwei von drei Torabschlüssen im Strafraum.
  • Schüsse:
    Auch das hätte man zur Winterpause kaum für möglich gehalten. Die Lilien liegen im Ligavergleich an Position 4, was die Anzahl der Schüsse auf das gegnerische Tor anbetrifft. Zwar gingen immer noch mehr Schüsse daneben, aber die Genauigkeit nahm zu.
  • Gegentore:
    Nur 23 Tore fingen die Lilien aus dem Spiel heraus. Ein Indiz für die gute Spielaufteilung und das kompakte Defensivverhalten. Nur die drei Erstplatzierten plus Hannover fingen noch weniger Tore nach Kombinationsspiel des Gegners.
  • Jugend:
    Mit Ensar Arslan und Leon Müller durften in den letzten drei Spielen zwei Junglilien Einsatzminuten sammeln. Vermutlich dürften sich die Wege der Lilien mit den beiden zumindest auf Leihbasis vorerst trennen. Dennoch zeigen die Beispiele, die Tür zu den Profis ist für das NLZ nicht kategorisch verschlossen. Zudem spielen in der nächsten Saison erstmals sowohl die U19 als auch die U17 in der Bundesliga. Die sportliche Bilanz beim SV Darmstadt 98 kann im Sommer 2020 also nur positiv ausfallen. Bitte so weitermachen, ihr Lilien.