Rund eine Woche dauerte die Trainersuche beim SV Darmstadt 98. Am Dienstagabend verkündete der Klub, dass Torsten Lieberknecht der neue Chefcoach am Böllenfalltor ist. Bei vielen Fans dürfte Lieberknecht noch mit Eintracht Braunschweig in Verbindung gebracht werden. Dort feierte er zwischen 2008 und 2018 große Erfolge. Der gebürtige Pfälzer führte den Klub von der Dritt- in die Erstklassigkeit und hielt ihn nach dem Wiederabstieg in der 2. Bundesliga lange in der oberen Tabellenhälfte. Zwischen 2018 und 2020 trainierte er den MSV Duisburg, dessen Zweitligaabstieg der heute 47-Jährige nicht verhindern konnte und mit dem er dann in der 3. Liga den Wiederaufstieg verpasste. Was ist nun von aber von Lieberknecht zu halten? Wie hat er bislang Fußball spielen lassen? Wie tickt er neben dem Platz und kann er junge Spieler weiterentwickeln? Darüber spreche ich mit Gerald, der Torsten Lieberknecht persönlich gut kennt und seinen Werdegang seit vielen Jahren begleitet. Interessanterweise doziert der Braunschweiger tatsächlich an der Hochschule Darmstadt (h_da). Zudem hat er bereits mehrere Bücher über Fußball geschrieben.
Gerald, Du kennst Torsten Lieberknecht seit rund 15 Jahren persönlich. Auf Außenstehende wie mich wirkt er sehr bodenständig und nahbar, er scheint eine ehrliche Haut zu sein und hat sich bei seiner Vorstellung am Donnerstag überaus gewinnend präsentiert. Wie tickt der Mensch Torsten Lieberknecht?
Er tickt genau so, wie Du ihn hier beschreibst. Er ist ein Familientyp. Unsere Kinder haben sich schon gemeinsam um Polizeiautos gestritten, so haben wir uns mal in einem Café kennen gelernt. Das ist bei ihm alles keine Inszenierung. So ist er. Ich würde noch ergänzen: Er ist unglaublich ehrgeizig sowie großzügig gegenüber anderen. Er hat zum Beispiel als Cheftrainer bei Eintracht Braunschweig nebenbei noch sein Fußballlehrer-Diplom geschafft, mit Sternchen. Ich kenne Torsten noch als Spieler der Eintracht. Gegen Duisburg hat er mal einen Elfmeter reingemacht! Seine Brüder waren übrigens laut eigener Aussage die besseren Fußballer … Aber er hat es geschafft, sich als Profi durchzusetzen!
Was heißt das wiederum für ihn als Trainer. Wie würdest Du seinen Draht zu den Spielern beschreiben?
Er hat es in Braunschweig geschafft, eine verschworene Gemeinschaft zu formen. Eine Truppe, mit guten Charakteren, mit der er in fünf Jahren von der 3. Liga bis in die Bundesliga marschiert ist. Das sagt alles.
Du bist leidenschaftlicher Eintracht Braunschweig-Fan. Was machte Lieberknecht über viele Jahre in Deinem Klub so erfolgreich?
Da bin ich natürlich befangen … Aber mit Torsten habe ich die besten zehn Jahre am Stück als Fan dieses Vereins erleben dürfen. Das geht vielen so! Nicht nur sportlich. Er kümmerte sich um alles auf und neben dem Platz, sprach mit vielen Fangruppen. Er machte junge Spieler besser, er schaffte es immer wieder, eine Truppe zusammenzustellen, die sich über die Zeit entwickelte und gezielt verstärkt wurde. Mit Minimal-Etat. Eintracht Braunschweig hatte in den zehn Jahren unter ihm in der Regel sogar ein Transferplus.
In Duisburg hingegen agierte er zwar immerhin über zwei Jahre, konnte aber zunächst weder den Zweitligaabstieg verhindern, noch den späteren Wiederaufstieg packen. Traust Du Dir eine Bewertung zu, was da nicht so geklappt hat?
Zu Beginn hatte er eine Mannschaft übernommen, die wohl nicht perfekt zusammengestellt war. Den Abstieg konnte er kaum vermeiden, denke ich. Das habe ich aber auch nur aus der Ferne verfolgt. Im zweiten Jahr in Duisburg war er mit einer neuen jungen Mannschaft 19 Spieltage lang souveräner Tabellenführer. Die Corona-Zwangspause hat dem MSV dann aber das Genick gebrochen. Danach ging nichts mehr. Im Endspurt mit drei Spielen pro Woche standen teilweise nur noch knapp mehr als ein Dutzend Spieler im Kader. Ganz anders bei Eintracht Brauschweig, die vor einem Jahr glücklich aufsteigen konnten, mit einem überdimensionierten Spielerkader … Das erinnert mich dann wiederum an unseren vollkommen bescheuerten Abstieg in die 3. Liga, der 2018 auf unwürdigste Art die Ära Lieberknecht bei der Eintracht beendete. Im Jahr zuvor ist Braunschweig mit 66 Rekordpunkten NICHT in die 1. Bundesliga aufgestiegen, 2018 dann aufgrund des Relegationsfluchs mit 39 Rekordpunkten grotesk abgestiegen, als bester Zweitligist der Fünfjahreswertung. Schönen Dank auch, lieber schlecht scherzender Fußballgott, Du Arsch!
Ich kann mich noch gut erinnern, denn die Lilien waren schließlich damals ein Profiteur im Abstiegskampf. Der heutige sportliche Leiter der Lilien, Carsten Wehlmann, hat sich übrigens in der Pressemitteilung zu Lieberknecht geäußert. Dabei sagte er, der SVD habe einen Cheftrainer gesucht, „der die Art und Weise unseres Fußballs und unseren eingeschlagenen Weg fortführen will“. Zudem sei es wichtig, dass ein moderner, aktiver Spielansatz gewählt werde, für den Lieberknecht explizit stehe. Hat Carsten Wehlmann recht?
Ja, unbedingt! Lieberknecht lässt einen modernen Fußball spielen, ist taktisch unglaublich variabel. Die Spieler bei Eintracht hatten unter ihm mehrere Systeme traumhaft sicher drauf.
Markus Anfang hat es lange nicht geschafft, der Darmstädter Mannschaft die richtige Balance aus Offensivdenken und Defensivstabilität zu verleihen. Nachdem er angekündigte, die Defensive zu stärken und auf eine Doppelsechs setzte, lief es plötzlich wie am Schnürchen. Die Torbilanzen zu Braunschweiger Zeiten sprechen für mich eher dafür, dass unter Lieberknecht ein Fokus auf der Defensive lag, wohingegen offensiv kein Feuerwehr abgebrannt wurde. Interpretiere ich das richtig? Dürfen wir uns also eher auf ein 1:0 als ein 3:2 einstellen?
Ich weiß nicht, ob diese Zuschreibung so stimmt. Zu Markus Anfang kann ich nichts sagen, das wisst Ihr besser einzuschätzen. Stellt Euch auf einen Trainer ein, der an der Seitenlinie alles gibt! Ich darf daran erinnern, dass Eintracht beim Aufstieg 2011 in die 2. Liga einen Punkterekord in der 3. Liga aufgestellt hat. Die Offensive um Kruppke, Kumbela, Bellarabi und Boland erzielte in dieser Saison atemberaubende 81Tore, Tordifferenz plus 59, und erreichte 85 Punkte. Eintracht spielte die Rückrunde wie im Rausch, in einer ganz eigenen Liga, war sechs Spieltage vor Saisonende aufgestiegen, mit einem Vorsprung von 20 Punkten auf den Relegationsplatz. Diese Mannschaft sollte dann zwei Jahre später sogar in die Bundesliga aufsteigen, nach 28 Jahren. Also, die Defensive ist Torsten wichtig, aber ich kann Dir fast ebenso viele Fußball-Spektakel wie Ergebnissicherungsspiele mit ihm aufzählen. Gegen Düsseldorf gab es in der 3. Liga zum Beispiel auch mal ein verrücktes 5:5!
- Mein Einwurf zu Markus Anfangs‘ Amtszeit und Abgang: Und raus bist du
Die Lilien streben danach, zukünftig über Spielertransfers Einnahmen zu generieren. Traust Du ihm auch zu, jene weiterentwickeln, die ihr Optimum am Bölle oder bei anderen Klubs bislang noch nicht ausgeschöpft haben?
Auf jeden Fall. Dafür steht Lieberknecht. Onel Hernández zum Beispiel, kam 2016 als junger Spieler vom ungeliebten Nachbarn aus Wolfsburg zur Eintracht. Von Wolfsburg II, um genau zu sein. Für 150.000 Euro. Unter Lieberknecht entwickelte er sich hervorragend, stieg als Schlüsselspieler 2017 fast auf und wurde dann in der Winterpause 2018 von Norwich City weggekauft. Leider. Für 3 Millionen Euro.
Ist Lieberknecht zudem ein Trainer, der Spielern aus dem eigenen Unterbau eine ehrliche Chance gibt?
Ja! In Braunschweig schafften zahlreiche Spieler aus der zweiten Mannschaft und der U19 den Sprung zu den Profis. Das Bundesliga-Jahr 2013/14 wurde dazu genutzt, das Nachwuchsleistungszentrum zu stärken, statt kurzfristig „große Namen“ einzukaufen. Das wurde in Braunschweig natürlich auch kritisiert. Aber Lieberknechts größte Leistung neben den Aufstiegen blieb es – wie ich finde -, nach dem Bundesliga-Abstieg die Eintracht über viele Jahre in der 2. Liga etabliert zu haben. Immer in Sichtweite der Aufstiegsplätze.
Lieberknecht hat bewiesen, dass er Braunschweig kann. Er scheint sich riesig auf seine neue Aufgabe in Darmstadt zu freuen. Kann er also auch den Traditionsverein Darmstadt 98?
Na klar! Das Thema seiner Abschlussarbeit zum Fußballlehrer hieß übrigens: „Herausforderung ‚Kultklub‘. Der Spagat zwischen Tradition und modernem Fußball am Beispiel Eintracht Braunschweigs“. Also, ich finde, Darmstadt passt hervorragend. Ich freue mich für ihn und für die Lilien-Fans!
Auf der Antritts-PK hat er übrigens gesagt, dass er schon länger Fan des Lilien-Lieds „Tor! Lilien vor“ sei, besser bekannt als „Die Sonne scheint“. Was sagt da der Eintracht-Fan in Dir dazu?
Da kann ich drüber stehen. Aber ich kann Dir versichern, dass er einen sehr guten Musikgeschmack hat. Natürlich auf Vinyl!
Was meinst Du, was er dann zu den anderen Lilien-Liedern sagen würde, wie „Allez les bleus“ oder „Europapokal“, die ebenfalls regelmäßig vor den Spielen laufen?
(hört sie sich an) Ja, die fände er bestimmt auch gut. An der Stelle will ich übrigens noch eine besondere Empfehlung aussprechen: Im Podcast von Thomas Löwe erzählt Torsten Lieberknecht in 13 Episoden über seine insgesamt 15 Jahre als Spieler und Trainer bei Eintracht Braunschweig. Ich bin als Sidekick dabei. Hört Euch das unbedingt mal an: Gegengerade Spezial – Torsten Lieberknecht.
Herzlichen Dank für den Tipp und ein großer Dank an dich, Gerald, dass Du Deine Ansichten zu Torsten Lieberknecht und seinen Teams mit mir geteilt hast.
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* Winter-Neuzugang, bisher überwiegend verletzt
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