Geht den Lilien im Saisonendspurt etwa die Puste aus? Schon in Köln ließen die 98er den ersten Matchball zum Klassenerhalt liegen, am vergangenen Samstag gegen die Eintracht den zweiten. Nun muss sich der SVD ausgerechnet mit den beiden Anwärtern auf den Champions-Quali-Platz duellieren: Hertha BSC und Borussia Mönchengladbach. Am Samstag geht es zunächst nach Berlin. Henry vom Damenwahl-Podcast spricht mit mir am Ende des Vorberichts über seinen Hauptstadtklub.
So sieht’s aus:
Beknackt! Wie eingangs erwähnt machen es sich die Lilien unnötig schwer. Die Niederlage gegen die Eintracht war überflüssig wie ein Kropf und schmerzt dreifach:
- ermöglichte es der SVD einem direkten Konkurrenten aufzuschließen,
- war es eben das Derby gegen die Eintracht und
- ließen die Lilien einer starken ersten, eine unerklärlich schwache zweite Hälfte folgen.
Wieder ging ein Vorsprung flöten. Wieder erzielte der Kontrahent kurz vor Schluss einen (entscheidenden) Treffer. Hinzu kam, dass Sandro Wagner bei seinem Elfer Lukas Hradecky ausgucken wollte, der jedoch souverän parierte. Interessant dabei: Änis Ben-Hatira zeigte seinem Keeper die Ecke an, in die Wagner tatsächlich schoss. Da scheint einer seinen Buddy aus alten U21-, Duisburg- und Hertha-Zeiten gut zu kennen. Zudem hatte Marcel Heller leider mit seiner mustergültigen Vorarbeit zum 1:0 all seine Scorer-Fähigkeiten aufgebraucht. Zu oft segelten seine Flanken ins Nirvana und als er in Halbzeit 1 nur noch alleine vor Hradecky draufhalten musste, legte er lieber quer … zum Gegenspieler. Arrrgh!
Doch dann kam ja noch diese vermaledaite zweite Hälfte. Mir ist es auch mit dem Abstand einiger Tage immer noch völlig unbegreiflich, wie ein Team, dass einen (verunsicherten) Gegner in der ersten Halbzeit voll im Griff hat, nach der Pause so passiv auftreten kann. Die Lilien standen ab Minute 46 seeeehr tief; wie gegen Augsburg. Sie ließen den Gegner bis weit vors eigene Tor sein Spiel aufziehen; wie gegen Augsburg. Sie spielten vorwiegend überhastete und unkoordinierte Pässe in die Spitze; wie gegen … (ach lassen wir das). Sie liefen dem Ball beständig hinterher. Sie kamen zu spät in die Zweikämpfe. Sie konnten überhaupt keine Akzente mehr setzen. Die Gegentreffer waren so nur eine Frage der Zeit. Für einen solchen – ja! – Einbruch kann es drei verschiedene Ursachen geben:
- Die Psyche, denn den Jungs wurde plötzlich gewahr, dass sie nur noch eine Halbzeit vom ebenso frühzeitigen wie sensationellen Klassenerhalt entfernt waren,
- die Kraftreserven waren aufgebraucht,
- die Mannschaft wird nach einer starken Saison auf Normalmaß gestutzt.
Da bin ich ganz klar bei Punkt 1! Was zwar menschlich, aber doch auch überraschend wäre, denn die Lilien galten bislang als Mentalitätsmonster.
An die Hertha haben Dirk Schuster und sein Team keine guten Erfahrungen. Beim 0:4 im Hinspiel sahen die Lilien kein Land. Beeindruckend passsichere und laufstarke Berliner nutzten die wenigen Chancen eiskalt. Gegen diese Abgezocktheit kamen engagierte 98er nicht an. Die Hertha ist auf Platz 5 immer noch in der Verlosung um die Champions-League-Quali. Selbst wenn es im April nur einen Punkt aus fünf Partien gab, spielen die Hauptstädter keineswegs schlecht und verloren gegen Leverkusen am Wochenende eher unglücklich. Mit Marvin Plattenhardt fehlt ein Stammspieler gesperrt, der im Hinspiel einen sehenswerten Freistoß versenkte. Dauerläufer Vladimir Darida ist angeschlagen. Dennoch sollte das Team von Pal Dardai über ausreichend Qualität verfügen, um diese Ausfälle zu kompensieren.
Wir & Die & Die Bundesliga:
Erst ein Bundesligaspiel führte den SVD bislang ins Olympiastadion. Am 13. Januar 1979 verloren sich bei eisigen Temparaturen lediglich 6.800 Zuschauer in der großen Betonschüssel. Laut kicker kam der Vorletzte aus Südhessen mit der zwölf (!) Zentimeter hohen Schneedecke anfänglich besser zurecht. Doch am Ende behielt die Hertha (13.) dank eines Kopfballtores von Dieter Nüssing beide Punkte. Das Fachmagazin urteilte am Montag darauf über den nach heutigen Maßstäben irregulären Kick:
„Das Rezept, auf diesem Boden lange Pässe zu schlagen, klappte bei den Darmstädtern wesentlich besser. (…) Nach dem Tor steigerte sich Hertha und kam auch mit dem glatten Boden besser zurecht. Die schnellen Flügelstürmer brachten die Darmstädter Abwehr einige Male in Verlegenheit, doch auch hier fehlte der krönende Abschluss, wobei es allerdings einige Entschuldigungen gibt: Viele flach gespielte Bälle blieben im Schnee stecken.“
Ach ja, an diesem Wochenende vor fünf Jahren:
Ging es in der Regionalliga Süd nach Frankfurt. Gegen die kleine Eintracht gewannen die Lilien mit 3:2. Durch die zeitgleiche Niederlage von Hessen Kassel gegen Hoffenheim II übernahmen die Lilien erstmals die Tabellenführung. Dabei verspielte die Elf von Kosta Runjaic beinahe noch den Sieg. Zur Pause führten die 98er schon beruhigend mit 3:0 (Sven Sökler, Uwe Hesse, Oliver Heil). Doch Treffer durch Ex-Lilie Elia Soriano und Dustin Ernst sorgten für eine unnötig unruhige letzte Viertelstunde.
Und die Junglilien?
Kehrten mit leeren Händen aus Freiburg zurück. Die U19 der Lilien stand bereits vor dem vorletzten Spieltag der Junioren-Bundesliga Süd/Südwest als Absteiger fest und verlor mit 2:1 beim SC-Nachwuchs. Dabei waren die Junglilien erst eine Viertelstunde vor Schluss in Führung gegangen. Ein später Doppelschlag besiegelte die 17. Saisonniederlage. Nun verabschiedet sich das Team von Richard Hasa am letzten Spieltag gegen die U19 von Eintracht Frankfurt aus der Liga.
Der Konkurrent hat das Wort
Henry (43) spricht beim Damenwahl-Podcast zusammen mit Steffen über seine Herzensdame Hertha BSC.
Henry, Hand aufs Herz. Hättest Du der Hertha so eine erfolgreiche Runde zugetraut, die euch bis nach Europa führen wird?
Nicht in den kühnsten Träumen. Ich habe, wie die meisten in meinem Umfeld, Hertha gegen den Abstieg kämpfen sehen. Meine leise Hoffnung war, dass Hertha bereits Mitte April die ominösen vierzig Punkte gesammelt hätte, und dass man dann ganz entspannt die restlichen Spieltage genießen könnte. Dass Hertha zwei Spieltage vor Schluss um Platz vier (!) kämpft, hätte ich nie erwartet.
Zu welchem Zeitpunkt der Saison war Dir klar, hier wächst gerade etwas heran?
Bereits im zweiten Spiel gegen Bremen (Endstand 1:1), dem ersten Heimspiel der Saison, gab es Phasen, die ich so von Hertha nicht mehr kannte: Ballbesitzspiel mit schnellen, flüssigen Passstafetten, sichere Kombinationen, hohe Pressingresistenz. Da wurde nicht der Fußball neu erfunden, aber für meine Mannschaft war es neu. Sowas hatte ich in der ersten Liga von Hertha lange nicht mehr gesehen. So richtig klar war es zum Ende der Rückrunde, als Hertha in Liga und Pokal Siege in Serie einfuhr. In die Winterpause ging es mit sagenhaften 32 Punkten und der Teilnahme am Viertelfinale des DFB-Pokals.
Was muss die Hertha tun, damit die Doppelbelastung der kommenden Saison nicht in einem ähnlichen Desaster mündet wie 2010, als ihr abgestiegen seid?
Zunächst einmal muss sich Hertha erst noch für den europäischen Wettbewerb qualifizieren. Der jetzige Punktestand garantiert bisher lediglich die Teilnahme an der Qualifikationsrunde zur Europa-League, nichts weiter. Da ist noch nichts gesichert.
Im Sommer 2009 war die Situation im Verein völlig anders als heute. Aufgrund einer dramatischen Schieflage der Finanzen konnte Hertha diverse Leistungsträger nicht halten: die Leihe von Stürmer André Voronin vom FC Liverpool lief aus (und Hertha konnte die Kaufsumme nicht stemmen), Innenverteidiger Josip Simunic wollte seinen großen Traum wahr machen, und in der Premier League spielen (und ging folgerichtig nach Hoffenheim). Und der Vertrag von Stürmer Marko Pantelic war ausgelaufen und Hertha war nicht bereit, dessen utopischen Forderungen nachzukommen. Hinzu kamen außerordentliche Schwierigkeiten mit Trainer Lucien Favre, der sich in der Niederlagenserie zu Saisonbeginn 2009/2010 der Situation nicht gewachsen sah. Man vergleiche die Situation zu Beginn dieser Saison bei Borussia Mönchengladbach. Da kam eine Menge zusammen. Die Teilnahme an der Europa-League im Herbst 2009 hat da sicherlich nicht geholfen, sondern eine ganze Menge Kraft gekostet.
Sollte Hertha aber nächstes Jahr europäisch spielen, was ich sehr hoffe, ist die Situation eine gänzlich andere. Hertha steht finanziell gut da, der Mannschaft droht kein herber Verlust und das Trainerteam ist gesetzt. Diese Kontinuität tut dem Verein sehr gut. Außerdem gehe ich davon aus, dass die Mannschaft über den Sommer in einem Maße verstärkt werden wird, das es dem Trainer erlaubt, viel mehr Spieler über die Saison zum Einsatz zu bringen, und damit die von Dir angesprochenen Schwierigkeiten in der Bundesliga zu vermeiden. Die Transfers von Manager Preetz waren in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich erfolgreich. Er wird auch in diesem Sommer gute Arbeit machen, da bin ich mir sicher. Letztlich kommt es nicht unwesentlich darauf an, dass es die sportliche Leitung versteht, die Priorität auf die Bundesliga zu lenken. Denn das ist das Brot- und Buttergeschäft, da muss gewonnen werden, müssen die Punkte für den Klassenerhalt gesammelt werden. Alles andere ist Beiwerk.
Euer Auftritt beim 4:0 in Darmstadt zum Ende der Hinrunde war ungemein abgeklärt. Die Elf präsentierte sich sehr homogen. Eine der besten Leistungen der Saison, oder gab es da noch stärkere?
In Darmstadt hatte Hertha einen Sahnetag. Das lief schon nicht schlecht. Andere gute Spiele waren die Heimsiege gegen Leverkusen am 15. Spieltag (2:1), gegen Mainz am 17. Spieltag (2:0) und gegen Schalke am 26. Spieltag (2:0).
Am vergangenen Wochenende haben bei der bitteren Heimniederlage der Lilien gegen Frankfurt mit Yanni Regäsel, Änis Ben-Hatira, Sandro Wagner, Fabian Holland und Peter Niemeyer fünf ehemalige Herthaner gespielt. Bedauerst Du den Abgang des ein oder anderen? Die meisten wurden ja weggeschickt.
Bedauern ist nicht der richtige Ausdruck. Ich mag Niemeyer als Typen sehr, aber sportlich hätte er Hertha wahrscheinlich nicht mehr weitergeholfen. Auch bei Holland und Wagner kam die sportliche Leitung zur Überzeugung, dass für beide angesichts der angestrebten Spielweise für 2015/16 kein Platz mehr in der Mannschaft wäre. Der Saisonverlauf Herthas hat diese Entscheidungen bestätigt.
Am ehesten fehlt mir noch Niemeyer. Immer sauber und geradlinig. Ein Kämpfertyp. Voller Einsatz und 100% loyal. Er war auch derjenige, der sich ganz anständig bei Hertha verabschiedet hat, mit einem persönlichen ‚Auf Wiedersehen‘ bei der Mannschaft und einem großen Frühstück für die versammelte Geschäftsstelle. Sowas kommt immer gut an. Niemeyers berufliche Zukunft im Anschluss an seine Karriere als Spieler liegt bei wahrscheinlich bei Hertha. Ihm liegt ein entsprechendes Angebot vor. Was genau seine Aufgabe sein wird, steht wohl noch nicht fest. Aber da wird sich was finden. Guter Mann. Wagner spielt auch eine hervorragende Saison in Darmstadt. Ihm kommt die Spielweise zugute, die ihn mit Vorlagen und Flanken füttert. In Berlin hat es nicht mehr gepasst. Das Spielsystem ist anders. Der Wechsel war für beide Seiten gut.
Die Abgänge von Ben-Hatira und Regäsel aus dem letzten Winter waren ganz anders gelagert. Ben-Hatiras Vertrag bei Hertha wäre im Sommer 2016 ohnehin ausgelaufen und nicht verlängert worden. Eines seiner größten Probleme ist seine Verletzungsanfälligkeit. Er steht seinem Arbeitgeber bei maximal der Hälfte aller Spiele zur Verfügung, den Rest der Zeit ist er verletzt. Sein Abgang bei Hertha war nicht ruhmreich. Seine gestreckte Gerade gegen Mitspieler Weiser zeugt nicht gerade von Reife und Professionalität. Regäsel wiederum sah für sich wohl die Gefahr, nicht an den beiden nominellen Rechtsverteidigern Weiser und Pekarik vorbeizukommen und als Talent auf der Bank zu versauern. Diese Einstellung muss man nicht teilen, zumal Regäsel mit seinen 20 Jahren wahrlich keine Torschlusspanik bekommen sollte. Außerdem war schon zum Zeitpunkt des Wechsels abzusehen, dass Hertha in der Saison 2016/17 wahrscheinlich international spielen würde. Daraus folgen eine hohe Belastung für den gesamten Kader und viel Rotation in der Mannschaft. Nur eine einzige Verletzung eines der beiden Stammspieler und er wäre dran gewesen. Aus meiner Sicht hat er sich mit dem Wechsel keinen Gefallen getan.
Was macht euer Spiel in dieser Saison so stark und welche Akteure sind dafür unentbehrlich?
Rund um das Dreier-Mittelfeld mit Kapitän Lustenberger, Per Skjelbred und Vladimir Darida, von Trainer Dardai als „schiefes Dreieck“ getauft, konnte sich die Mannschaft gut entfalten. Gerade zum Ende der Hinrunde war das Kennzeichen dieser Spielweise gut zu erkennen: hohe Flexibilität in den Positionen, sehr hohes Laufpensum und gute Passsicherheit. Alle drei spielen je nach Spielsituation mal die Sechser-, die Achter- oder die Zehnerposition. Hinzu kommen eine gute Verteidigerreihe und ein effektiver Sturm.
Die Hertha liegt im Heimranking auf Platz vier, die Lilien in der Auswärtstabelle ebenso. In der Rückrundentabelle stehen beide bei 17 Punkten. Sollte also für den abstiegsbedrohten SVD bei der fünftplatzierten Hertha tatsächlich etwas zu holen sein?
Darmstadt hat gerade auswärts immer wieder überraschen können. Ausgeschlossen ist das auch für den Samstag überhaupt nicht. Hertha wird sich strecken müssen.
Wie kann man der Hertha am ehesten den Zahn ziehen?
Wird nicht verraten, Betriebsgeheimnis. Im Ernst, die letzten Spiele von Hertha haben gezeigt, wo die Schwächen liegen. Derzeit kommt die Mannschaft mit hohem Pressing des Gegners nicht so richtig klar. Da war die Truppe in der Hinrunde abgezockter. Aber das Spiel des SV Darmstadt ist nun nicht für aggressives Pressing bis an den gegnerischen Strafraum bekannt. Daher sehe ich darin nicht die größte Gefahr für Hertha. Für Darmstadt gilt es, Hertha nicht in Fluss kommen zu lassen. Und Hertha muss sich vor den Kontern der Darmstädter in Acht nehmen.
Wie schätzt Du die Spielzeit der Lilien ein und wie hoch ist für dich die Wahrscheinlichkeit vor den Partien gegen euch und Mönchengladbach, dass sie die Klasse halten?
Ich bin ehrlich überrascht über die Saison von Darmstadt und würde mich freuen, wenn sie die Klasse halten könnten. Aber den einen wichtigen Punkt wird Darmstadt nicht bei Hertha holen. Ich drücke dann die Daumen für das Spiel gegen Gladbach.
Herzlichen Dank, Henry.
Gerne. Und vielen Dank für das Interview.
Pingback: #bscd98: „Für Darmstadt gilt es, Hertha nicht in Fluss kommen zu lassen“ | re: Fußball