Wo klemmt’s? Die Lilien-Zwischenbilanz 2019/20

Aus die Maus. Das Fußballjahr 2019 ist Geschichte. Die erste Partie der Rückrunde war zugleich das letzte Spiel des SV Darmstadt 98 in diesem Jahrzehnt. Der SVD hat sich in 18 Saisonspielen bislang 21 Punkte aufs Konto geschaufelt. Das bedeutet vor den Sonntagsspielen Rang 12 in der 2. Bundesliga. Und selbst wenn sich ein 2:2 gegen den HSV bedeutend besser anfühlt als das 2:6 vor Jahresfrist in Paderborn, das erhoffte Festsetzen in der oberen Tabellenhälfte, es blieb in der Hinrunde aus. Ja, die Lilien bieten spielerisch deutlich mehr an als noch vor einem Jahr. Ja, sie treten kompakt und diszipliniert auf. Und ja, sie beweisen immer wieder Moral und wirken intakt. Und dennoch muss man genauer hinschauen, warum die Jungs nach 18 Spieltagen erneut in der wohlvertrauten, aber nicht wirklich gemütlichen Tabellenregion stehen.

Dursun und dann lange nichts
Da ist zuallererst die maue Offensivabteilung. 20 Tore nach 18 Begegnungen bedeuten im Schnitt 1,1 Tore und das ist einfach dürftig. Serdar Dursun kommt auf sieben Tore, Abwehrrecke Dario Dumic und Evergreen Tobi Kempe auf deren drei. Keine allzu beeindruckenden Zahlen. Dursun ist vorne weitgehend auf sich allein gestellt und reibt sich – wie gegen den VfB – gegen robuste Innenverteidiger auf, während er zuvor obendrein noch auf Höhe der Mittellinie im Spielaufbau gefordert ist. So muss er eine Menge Aufwand betreiben, an Orten, die ihn noch nicht einmal in die Nähe einer Torgefahr bringen.
Was aber noch eklatanter ist, ist die mangelnde Torgefahr seiner offensiv ausgerichteten Teamkollegen. Neben Kempe trafen lediglich noch Tim Skarke (2) und Marcel Heller (1). Bleibt Dursun ohne Torerfolg, dann springt für ihn aus dem Spiel heraus kaum jemand in die Bresche. Das ist alarmierend, denn just auf das Angriffsspiel hatte man bei den Neuzugängen ein Hauptaugenmerk gelegt. Aber weder Ognjen Ožegović, noch Mathias Honsak, noch Erich Berko verzeichneten einen Torerfolg und auch Marvin Mehlem ist alles andere als eine Mensch gewordene Torgefahr.

Mühe, Torchancen zu kreieren
Schaut man ein wenig genauer auf die Torabschlüsse, dann fällt auf, dass das Konterspiel kaum Gefahr bringt. Nach Kontern kam der SVD lediglich neunmal zum Torabschluss, jedes Mal ohne Erfolg. Von den laut des Statistik-Portals whoscored.com insgesamt 241 Schüssen aufs gegnerische Tor resultierten etwa ein Drittel aus Standards und zwei Drittel aus dem Spiel heraus. Nur drei Klubs erzielten bislang allerdings weniger Tore im Anschluss an Passkombinationen. Das unterstreicht nochmals die Harmlosigkeit im Angriffsspiel der 98er. Umso mehr, als lediglich 87 Schüsse (also ein knappes Drittel aller Schüsse) überhaupt aufs gegnerische Tor kamen. Mehr als 150 wurden geblockt oder verfehlten das Tor. Wer sich vor dem Spiel anschaut, wie die Lilien beim Warmmachen die Bälle übers oder neben das Tor bolzen, den darf das nicht verwundern.

No-Go-Area Strafraum
Mit diesen ausbaufähigen Zahlen korrespondiert die Tatsache, von wo die Lilien ihr Glück versuchen. Denn worauf die Lilien allzu gerne zurückgreifen, sind Abschlüsse aus der zweiten Reihe. Und der Ertrag dieser Vorgehensweise ist äußerst überschaubar. Wer erneut bei whoscored.com die Statistiken der Lilien Spieltag für Spieltag durchgeht, der erkennt, dass die 98er vom 1. bis zum 18. Spieltag mehr Schüsse auf das gegnerische Tor von außerhalb des Strafraums abgegeben haben (52 Prozent), als von innerhalb. Dass dies nicht zwingend erfolgsversprechender ist, erklärt sich von selbst. Sind doch in der Regel mehr Gegenspieler zwischen Ball und Tor, was die Wahrscheinlichkeit geblockt zu werden erhöht. Zudem sind Fernschüsse einfach weniger genau, was gegen den HSV Fabi Holland und Seung-ho Paik demonstrierten. Nur konsequent, dass in eben jenem Spiel Dursun zweimal am Fünfmeterraum goldrichtig stand und einnetzte.

Verflankt noch mal
Und dann sind da die Flanken: Wer den Fußball-Podcast Rasenfunk hört, der weiß, dass Flanken auch in der Bundesliga in der Regel beim Gegner landen. Die Lilien scheint das aber herzlich wenig zu stören. Sie zählen zum oberen Drittel der Zweitligisten, die die Flanke als probates Mittel erkennen. Warum auch immer?! Whoscored.com hat im bisherigen Saisonverlauf 326 Flanken der Blau-Weißen gezählt. Weniger als jede vierte kam an. Und das sagt noch nicht einmal etwas darüber aus, ob daraus tatsächlich eine Torchance resultierte. Von den Spielern, die bislang mehr als 25 Flanken geschlagen haben, sticht – surprise, surprise – Yannick Stark löblich heraus. Bei ihm kamen 42 Prozent der Flanken an. Bei Tobi Kempe immerhin noch 32 Prozent. Auch Fabi Holland erreicht mit 30 Prozent seiner Flanken einen Mitspieler. Danach fällt die Quote ab. Wenn Marcel Heller oder Patrick Herrmann zu einer Flanke ansetzen, dann kann man getrost den Weg zum Getränkestand einschlagen. Während Hermann nur jede sechste Flanke an den eigenen Mann bringt, sind es bei Heller gar weniger als jede siebte. Lediglich acht seiner 57 Flanken kamen im bisherigen Saisonverlauf an. Gegen den HSV endlich mal wieder eine, nachdem Heller zuvor seit dem Nürnberg-Spiel keinen Abnehmer für seine geschlagenen Bälle mehr gefunden hatte. Und das war Mitte September! Ergo: Wenn er schon so schnell ist, warum dann nicht mal den Weg an die Grundlinie suchen und von dort den Ball in den Rücken der Abwehr passen?

Fehlende Vertikalität aus dem Mittelfeld
Wie hatte die „Frankfurter Rundschau“ unlängst nach dem Spiel in Wehen treffend geschrieben? „Ein einziger gefährlicher Abschluss aus dem Rechteck [Strafraum] ist schlicht zu wenig. So bleibt es dabei, dass die Darmstädter zwar das Potenzial und die Spielanlagen für den souveränen Klassenerhalt besitzen müssten, sich alles in allem aber weiter eher durchmogeln in dieser Spielzeit.“ Darmstadt spielt sich in dieser Saison tatsächlich vermehrt in die gegnerische Hälfte und sucht nicht primär den langen Ball. Etwas Spielkultur hat also Einzug gehalten bei den „Boys in Blue“. Im letzten Spieldrittel ist allerdings der Wurm drin. Nur wenige zündende Ideen, kaum mutiges Passspiel. Vor allem der vertikale Ball, der Steilpass hinter die Abwehrreihe, der Schnittstellenpass, er fehlt. Dabei hat Marvin Mehlem dreimal bereits genauso sehenswert Tore aufgelegt (Skarke gegen Kiel, Dursun gegen Regensburg, Kempe gegen den VfB). Auch Kempe oder Paik haben das Potenzial solche Pässe zu spielen, tun es aber zu selten. Fabian Schnellhardt wäre dazu auch imstande, wie er nach seiner Einwechslung gegen den HSV andeutete, er darf es aber zu selten zeigen. So bleibt das Offensivspiel zu durchschaubar und zu leicht zu verteidigen. Überraschungsmomente und Tempo sowie die dafür notwendigen Laufwege sind zwingend gefragt. Ruhig auch mal mit einer Doppelspitze.

Mangelnde Dominanz als roter Faden
Seit der SVD vor zweieinhalb Jahren aus der 1. Bundesliga abgestiegen ist, hat er nunmehr 86 Spiele im Unterhaus absolviert. Dass die 98er sonderlich viele Spiele dominiert oder ungefährdet nach Hause geschaukelt hätten, das lässt sich ganz gewiss nicht sagen. Nur neun (!) der 86 Partien seit dem Bundesligaabstieg gewannen die Lilien mit mehr als einem Tor Differenz. Das heißt im Umkehrschluss: sie gewinnen nur jede zehnte Partie mit 2:0 oder höher. Das mag mit ein Grund dafür sein, warum das Publikum so leicht genervt reagiert, wie im Verlauf der Hinrunde. Dimitrios Grammozis hat seine Jungs jedenfalls in den unter ihn absolvierten 29 Liga-Partien erst zu einem „hohen“ Sieg geführt: Am zweiten Spieltag zum 2:0 über Kiel. Wenn Spiele immer spitz auf Knopf stehen und sich das Team schwer tut, den Gegner im Mittelfeld wie in der Abwehr im Griff zu haben, dann zermürbt das – Fans wie Spieler. Teams wie Kiel oder Regensburg, die ebenfalls seit zweieinhalb Jahren zweitklassig sind und keinesfalls über mehr Mittel verfügen als die Lilien, gewannen jedenfalls im gleichen Zeitraum deutlich häufiger mit mehr als einem Tor Vorsprung: Regensburg 13-mal, Kiel sogar 21-mal (jeweils vor deren Sonntagsspielen).

Ausbleibende Entwicklung der Neuen
Vor der Saison betonten die Verantwortlichen der Lilien häufiger, dass sie junge, entwicklungsfähige Spieler geholt hätten. Nun, so gesehen hat bislang kaum einer der jüngeren Neuzugänge nachhaltig auf sich aufmerksam gemacht. Okay, Paik und Skarke dürfen als Stammspieler gelten. Aber sie können dem Spiel (noch) nicht das gewisse Etwas und vor allem nichts Zählbares geben. Die restlichen Neuzugänge dürfen bestenfalls als Ergänzungsspieler gelten. Sie drängen sich folglich für Grammozis noch nicht wirklich auf, was etwa im Falle von Honsak überrascht und erst recht beim erfahreneren Schnellhardt. So müssen es dann doch die „Alten“ richten, wie Dursun, Kempe, Mehlem, Holland, Höhn, Palsson oder Hermann, was einigen mehr gelingt, als anderen.

Fun Fact
Vor dem HSV-Spiel wurde der langjährige Kapitän Aytac Sulu unter dem großen Jubel der Fans zum ersten Ehrenspielführer des SV Darmstadt 98 ernannt. Sulu hatte übrigens bereits beim ersten Pflichtspiel des nun zu Ende gehenden Jahrzehnts seine Beine im Spiel. Am 27. Februar 2010 gastierten die 98er in der Regionalliga Süd auf der Schwäbischen Alb. Beim VfR Aalen (Sulus damaligem Klub) verloren Elia Soriano, Sven Sökler, Markus Brüdigam, Fouad Brighache & Co. mit 0:3. Nach der Partie wie auch am Saisonende grüßten die Lilien in der 18er-Liga von Platz 15. Die Absteiger lauteten damals Wehen II, Eintracht Bamberg und Bayern Alzenau. Lang, lang ist’s her!

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